Billroth war der Erste. Er schnitt in die Mitte des Körpers, um einen Tumor herauszuholen, um das zu beseitigen, was den Körper sterben ließ. Er operierte den Magen als Erster, den Kehlkopf als Erster, den Unterleib der Frauen als Erster. Sein Mut und sein Genie machten ihn zu einem der größten Chirurgen der Welt. Zuvor musste eine Angstgrenze übersprungen werden, ein Tabu entzaubert. Die Patientin, an der er diesen Schritt vollzog, war eine 43-jährige Mutter von acht Kindern, bei der Magenkrebs diagnostiziert wurde. Am 29 Jänner 1881 gelang die erste Operation eines Magens. Die »Schule Billroth« führte zu einem internationalen Paradigmenwechsel: Der Krankheit darf auch im Innersten des Körpers mit dem Messer zu Leibe gerückt werden. Vor ihm war die Chirurgie ein Handwerk, die Tätigkeit eng umgrenzt: Brüche der Knochen, Amputationen, Leistenbrüche, Operationen am äußeren Menschen. Er wandte sich als Erster dem »inneren Menschen« im chirurgischen Sinn zu. Die Erfindung der Anästhesie hatte den Weg dafür freigemacht. Billroth erkannte zudem, dass der Erfolg der Operation von einer qualitätvollen Pflege abhing. Die Krankenpflege wurde mit seinem Einsatz zu der, die sie heute ist. Er schrieb das erste bekannte Lehrbuch und gründete weltweit die erste Schule für Krankenpflege im Rudolfinerhaus, nach dem mit ihm befreundeten Kronprinzen benannt. Neben der Gründung der modernen Bauchchirurgie war Billroth Pionier der Kehlkopfchirurgie, Entdecker der Streptokokken und damit Wegbereiter der Antisepsis, Mitbegründer der freiwilligen Rettungsgesellschaft und Förderer der Musik.

Der Anatom Ferdinand von Hochstetter beschrieb das Charisma Billroths in seinen Erinnerungen: »Ein bestimmtes Schema gab es nicht. Wir wurden auf Einzelheiten aufmerksam gemacht, von denen bei Albert (Kollege Billroths, Vorstand der I. Chirurgischen Universitätsklinik) nie die Rede war und das Wechselvolle der Krankheitsbilder wurde uns in eindrucksvoller Weise dargestellt. Oft wurde ein Fall vorgestellt, dessen Diagnose mir nach dem, was ich bei Albert gelernt hatte, auf den ersten Blick völlig klar zu sein schien. Und doch wandelte sich das Bild je länger Billroth sprach und als er schließlich eine Diagnose stellte, die ganz verschieden von der war, die ich nach Alberts Schema gestellt hatte, wurde sie keineswegs mit voller Sicherheit gestellt … Er begann die Operation und ihr Verlauf bewies, dass Meister Billroth richtig geurteilt hatte.«

In einem evangelischen Pfarrhaus auf der Insel Rügen geboren, war die Musik bei seiner Geburt schon ein Teil seiner Biografie – mit vielen Musikern in der Familie und einer Sängerin als Großmutter. Lange wusste er nicht, ob er Musiker werden oder einen anderen Beruf ergreifen sollte. Die Mutter soll die Musiklaufbahn nicht erlaubt haben. Nach seinen medizinischen Studien in Greifswald, Göttingen und Berlin unternahm er 1852 Studienreisen nach Wien und Paris. 1853–1860 war Billroth Assistent an der Berliner Chirurgischen Universitätsklinik unter Bernhard von Langenbock, wo er sich 1856 für Chirurgie und Pathologische Anatomie habilitierte. Seine pathologischen Kenntnisse halfen ihm auch bei seiner chirurgischen Tätigkeit entscheidend. In den Zürcher Jahren (1860–1867) schrieb er das Buch »Allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie in 50 Vorlesungen«, das international großes Echo fand und bis 1906 16 Auflagen hatte.

In Wien folgte Billroth 1867 Franz Schuh nach und leitete 27 Jahre die II. Chirurgische Universitätsklinik (1867–1894). Seine operativen Neuerungen machte er in Wien, Operationen im Vorlesungssaal waren sein Markenzeichen als Lehrer. Aber Wien führte ihn nicht nur zu chirurgischen Erfolgen, Wien wurde Billroths musikalischer Kosmos. Sein »Lebensmensch« Johannes Brahms, von dem er jedes komponierte Stück als Erster zum Lesen erhielt, begleitete ihn mit seiner Musik über Jahrzehnte. Aus Liebe zur Musik blieb Billroth in Wien und lehnte zweimal Berufungen nach Berlin ab. Alle späteren Werke von Brahms, der schon durch sein »Deutsches Requiem« berühmt geworden war, wurden in Billroths Haus uraufgeführt. Beide prägten das gesellschaftliche und musikalische Wien des 19.Jahrhunderts im Triumvirat mit Eduard A Hanslick, dem berühmt-sarkastischen Musikwissenschaftler und -kritiker. Abends nach dem Konzert lud Billroth des Öfteren Brahms, Hanslick, den Pianisten und Komponisten Ignaz Brüll, den Dirigenten und Hofkapellmeister Hans Richter, den Industriellen Moritz Faber, den Komponisten Karl Goldmark, den Konzertpianisten Anton Door, den Pianisten Julius Epstein, den Musikkritiker Max Kalbeck, den Komponisten Robert Fuchs und den Klavierfabrikanten Friedrich Ehrbar zum »Sacher« ein. Seine berühmten Schüler waren Anton von Eiselsberg, Robert Gersuny, Carl Güssenbauer und Julius von Höchenegg.

In krassem Gegensatz zu seinem selbstverständlichen gesellschaftlichen Umgang mit Juden als Kollegen und Freunden wurde er zu einer Stimme des Deutschnationalismus und Antisemitismus in Wien. In seiner Schrift »Lehren und Lernen« 1876 unterschied er »rein deutsches« von »rein jüdischem Blut« und behauptete, dass Juden niemals »deutsch fühlen« könnten. Damit gab er dem Antisemitismus wissenschaftliche Seriosität an der Wiener Universität. Als Folge dieser Schrift wurde ein Arierparagraf in die Statuten studentischer Verbindungen aufgenommen.

Billroth ließ das Haus für die Gesellschaft der Ärzte in Wien bauen (heute Billrothhaus), deren Präsident er ab 1888 war. An Brahms schrieb er zu diesem Anlass: »Lieber Freund! Vielleicht interessiert es Dich, meine jüngste Schöpfung in Wien, das Haus der k. k. Gesellschaft der Ärzte in der Frankgasse 8 (vor der Aserkaserne) zu sehen; es ist recht hübsch ausgefallen … Mein Hauptaugenmerk bei der Konstruktion des Sitzungssaales war darauf gerichtet, dass man lautlos durch eine der 20 Thüren verschwinden kann, wenn es langweilig wird; nur ich muß auf meinem Präsidentenstuhl ausharren. Jedenfalls wird es mich sehr freuen, Dich zu sehen. Dein Theodor Billroth«.

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Theodor Billroth 1882 (?)                      Foto (Ausschnitt) von Erich Conrad

Sein Leben war zerrissen zwischen Extremen, sowohl im Bereich der Arbeit als auch der Familie. Ein »Hühne an Gestalt« wog er 120 Kilo, trank und aß täglich außer Haus oder bei Festlichkeiten in seinem Haus, war Kettenraucher (Brisagos) und schrieb bis in der Früh an seinen Publikationen. Mit makabrem Humor beschrieb er sein Familienleben mit Ehefrau und drei Kindern in einem Brief an eine Bekannte 1886: »Jedes Mitglied der Familie Billroth ist in Gegenwart des anderen traurig, nur lustig, wenn er allein ist. Es ist eine verrückte Familie. Sie sollten sich vor ihr hüten. Else sagte, sie sei jetzt zur Überzeugung gekommen, dass es eine solche Familie mit einer solchen permanenten Grabesstimmung wie bei uns überhaupt nicht gäbe … Noch nie war ich so willensohnmächtig wie jetzt. Christel pflegt in solchen Fällen zu sagen: »Wenn wir nur erst alle glücklich tot wären!««

Wirkliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften wurde Billroth 1887. Zahlreiche andere in- und ausländische Auszeichnungen erzählen von seiner Bedeutung. 1929 wurde er mit einem Bildnis auf dem Doppelschilling als einer der großen österreichischen Ärzte geehrt. Er hat, so sagt man, seine Popularität genossen: Als er 1887 an einer gefährlichen Lungenentzündung erkrankt war, bangte ganz Wien um sein Leben. Mit einem großen Fackelzug feierten dann die Wienerinnen und Wiener seine Gesundung. Viele Jahre war er kirchlich als Presbyter der Evangelischen Pfarrgemeinde A. B. Wien engagiert.

Billroth starb in vollem Bewusstsein. Er schrieb noch drei Stunden vor seinem Tod:

»Nacht ist’s; schon lange lautlose Stille um mich, nun wircl’s auch in mir still. Mein Geist beginnt zu wandern, ein ätherblauer Himmel wölbt sich über mir. Ich schwebe körperlos empor. Es klingen die schönsten Harmonien von unsichtbaren Chören, in sanftem Wechsel gleich dem Atmen der Ewigkeit! Auch Stimmen nehm’ ich wahr, die Worte sind ein leises Rauschen, Klingen: Komm müder Mann, wir machen glücklich Dich. In dieser Sphären Zauber befreien wir Dich vom Denken, der höchsten Wonne und dem tiefsten Schmerz der Menschen. Du fühltest Dich als Teil des Alls, sei nun im ganzen All verteilt, das Ganze zu empfinden mächtig.«

Nachleben:
Billrothstraße im 19. Bezirk
Arztehaus mit Billrothsaal im 9. Bezirk, Frankgasse 8
Billroihdenkmäler:
Arkadenhof der Universität Wien (Caspar von Zumbusch)
Altes AKH im 9. Bezirk, Alser Straße 4, I. Hof gegenüber dem Haupteingang (Michael Drobil)
Rudolfinerhaus im 19. Bezirk
Billrothstraße 78 im Vorgarten (Caspar von Zumbusch)
Ehrengrab am Zentralfriedhof (Caspar von Zumbusch), Gr. 14A, Nr. 7

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 37 – 39.

 

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