Als Fürstin Eugenie in der Uraufführung von Franz Molnárs »Olympia« schrieb sie 1930 Theatergeschichte, und als sie 1948 die Rolle der Vermieterin im Kultfilm »Der dritte Mann« annahm, konnte sie bereits auf eine mehr als 50 Jahre dauernde Schauspielerinnenkarriere mit gut 300 Rollen zurückblicken. Zur Feier ihres 60jährigen Bühnenjubiläums erwiesen ihr auf dem Ballhausplatz Bundespräsident, Bundeskanzler und diplomatisches Corps ihre Reverenz. Anschließend spannten ihre Fans, altem Brauch folgend, die Pferde des Fiakers aus, um die Gefeierte selbst durch Wiens Straßen zu ziehen. Sie gehörte 63 Jahre lang dem Ensemble an. Auch als alte Dame erreichte Hedwig Bleibtreu in Theater und Film ungeahnte Popularität. Noch als 88-Jährige stand sie auf der Bühne. Als sie starb, wurde sie als einzige Schauspielerin auf der Bühne des Burgtheaters aufgebahrt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde ihr der Schlüssel des bombengeschädigten Burgtheaters anvertraut und sie sprach den Prolog anlässlich der Wiedereröffnung des Burgtheaters: ein hoher Symbolwert. Ihre Rollen gingen mit ihrem Älterwerden einher: Sie spielte von der jungen Frau zur Greisin. Der Durchbruch gelang ihr mit der »Jungfrau von Orleans« 1893. Weitere Glanzrollen waren u.a. die Leonore im »Fiesco«, die Königin im »Don Carlos«, die Bertha in der »Ahnfrau«.

Sie war eine der letzten Vertreterinnen des »hohen tragischen Stils«, die auf Grund ihrer Natürlichkeit eine erste Brücke zur Moderne geschlagen hat. Nach ihrer Ausbildung in der Schauspielschule des Wiener Konservatoriums spielte sie zu Beginn Rollen in Gesellschafts- und Volksstücken, bis sie 1893 an das Hofburgtheater kam, das sie 1906 mit einem lebenslangen Vertrag an sich band.

Mit 32 Jahren heiratete sie ihren Burgtheaterkollegen Alexander Römpler, der aus einer früheren Beziehung fünf Kinder mit in die Ehe brachte. Ein Herzleiden zwang Römpler bald, seine Bühnentätigkeit einzustellen. Er starb 1909. Eineinhalb Jahre später heiratete sie den Schauspieler Max Paulsen, später Direktor des Burgtheaters, dem es in seiner Amtszeit 1922/23 gelang, das Theater der Akademie für Musik und darstellende Kunst, kurz Akademietheater genannt, als Kammerspielbühne dem Burgtheater anzugliedern.

Als »Mutter des Burgtheaters« ließ sie sich wie viele andere Kolleginnen und Kollegen am Burgtheater für die nationalsozialistische Propaganda missbrauchen. Anton Wildgans bediente sich des Blut- und Boden-Vokabulars des Nationalsozialismus bereits in seiner Festrede 1930 anlässlich der Verleihung des Burgtheaterrings: »So sind Sie, Hedwig Bleibtreu, schon heute eingereiht unter die Unvergesslichen dieses ehrwürdigen Hauses und darüber hinaus – durchpulst von Blut aus unserem Blut, herausgewachsen und zur Meisterschaft gereift auf unserer Erde! – eine große deutsche Frau aus Österreich.« Und Gertrud Doublier schrieb 1933 anlässlich ihres 40-jährigen Bühnenjubiläums: »In wechselnden Gestalten, in hundertfältiger Verkleidung verkörpert Hedwig Bleibtreu den reinsten Begriff des Mütterlichen, mit all der Würde und deutschen Innigkeit, die wir ihm beimessen. Sie versinnbildlicht uns das Wort Nietzsches, daß in jeder weiblichen Liebe etwas von der Mutterliebe sei.« Hedwig Bleibtreu erhielt zahlreiche Ehrungen, so wurde sie 1924 Ehrenmitglied des Burgtheaters und erhielt u.a. den Burgtheaterring 1930 und den Ehrenring der Stadt Wien 1943.

Als man sie aus Anlass der Wiedereröffnung des Burgtheaters nach dem Krieg interviewte, erzählte sie aus ihrem Bühnenleben: »Meine erste Rolle war die Maria Stuart, und in der war ich gar nicht gut. Dann habe ich die Medea gespielt, da war ich auch schlecht. Meine dritte Rolle war die Iphigenie, und da war ich überhaupt miserabel.« »Ja, wie sind Sie denn überhaupt die berühmte Bleibtreu geworden?«, fragte der Reporter. »Mein Gott«, sagte die große Schauspielerin, »die Leute gewöhnen sich halt an einen.«

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 40 – 41.