Mein Gott, warum hast du mich verlassen. Warum bin ich so verlassen – so heißt es in den Vorentwürfen zum dritten Kapitel des Romans »Der Fall Franza«, ein Fragment, das vor dem Roman »Malina« entstand. Das wörtliche Bibelzitat aus Mk 15,34 hat Ingeborg Bachmann schließlich gestrichen, den an das Bibelzitat angelehnten Satz lässt sie in der Endfassung stehen. Nach ihrem Glauben kann in ihrem Werk auf Spurensuche gegangen werden und es erschließt sich eine tiefe, nicht triviale Auseinandersetzung mit mystischen Begriffen wie »Rückkehr zum Grund«, »Heilige Leere« und »Predigung der Wüste«. Der bekannte Theologe Paul Tillich nennt diesen paradoxen »Mut zum Sein« inmitten der Nacht als »absoluten Glauben«, als »religiös gültig«, da er die Angst, den Zweifel und die Sinnlosigkeit austrägt.

In mehreren Essays setzte sich Bachmann mit Ludwig Wittgenstein auseinander und deutete die berühmte Forderung Wittgensteins »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« als Mystik: »Dieses negative Schweigen wäre Agnostizismus – das positive Schweigen ist Mystik.« Und in ihrer Erzählung »Das dreißigste Jahr« schreibt sie: »Denn hätte er mit dieser Welt hier etwas zu tun, mit dieser Sprache, so wäre er kein Gott. Gott kann nicht sein in diesem Wahn, kann nicht in ihm sein, kann nur damit zu tun haben, dass dieser Wahn ist, dass da dieser Wahn ist und kein Ende des Wahnes ist.«

Ingeborg Bachmann war eine der großen österreichischen Schriftstellerinnen des 20.Jahrhunderts und half Österreich, sich mit seiner Geschichte schon in den 1950er Jahren zu konfrontieren. Fast wie eine Stellvertreterin, scheint es, hat sie mit ihren Gefühlen, die sie in ihren Werken beschreibt, am eigenen Leib Entfremdung, Angst, Exil und viele Todesarten im Nachkriegsösterreich durchlitten. Ihre Werke geben Zeugnis von der Wahrheit. Der berühmt gewordene Satz »Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar« ist im Kontext eines restaurativen Österreich als ernste politisch verstandene Kampfansage zu werten.

Nach Wien kam die geborene Kärntnerin durch ihr Studium. Über Martin Heidegger promovierte sie bei dem Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Victor Kraft (1880-1975), dem letzten in Wien lehrenden Philosophen des »Wiener Kreises«, den Moritz A Schlick gründete und dessen Mitglieder in den 1930er Jahren zum Großteil aus Wien vertrieben wurden. Nach dem Krieg herrschte auch an der Wiener Universität die katholische Restauration vor. Unterrichtsminister Heinrich Drimmel ließ sich zu dem Vergleich verführen, dass der Neopositivismus ebenso zersetzend sei wie der Nationalsozialismus.

Im Todesarten-Zyklus, in der Vorrede zu »Der Fall Franza« legt Bachmann den Finger auf den wunden Punkt Österreichs: »Es ist mir und wahrscheinlich auch Ihnen oft durch den Kopf gegangen, wohin das Virus Verbrechen gegangen ist – es kann doch nicht vor zwanzig Jahren plötzlich aus unserer Welt verschwunden sein, bloß weil hier Mord nicht mehr ausgezeichnet, verlangt, mit Orden bedacht und unterstützt wird. Die Massaker sind zwar vorbei, die Mörder noch unter uns … Ja, ich behaupte und werde nur versuchen, einen ersten Beweis zu erbringen, dass noch heute sehr viele Menschen nicht sterben, sondern ermordet werden … das Gemetzel findet innerhalb des Erlaubten und der Sitten statt, innerhalb einer Gesellschaft, deren schwache Nerven vor den Bestialitäten erzittern.«

Die Opfer des faschistischen Denkens konnten ihrer Meinung nach nicht einfach durch ein Denkverbot aus der Welt geschafft werden. Nach ihrer Auffassung hat es nur seine Erscheinungsform geändert.

Ingeborg Bachmanns Karriere war wie eine Rakete: Im Café Raimund verkehrte ein Kreis um Hans Weigel. Über Milo Dor lernte sie Hans Werner Richter und die Gruppe 47 in Wien kennen, mit der sie auch ihren literarischen Durchbruch feierte und ab dann als Literaturstar galt.

Aus dem Treffen der ehemaligen Ruf-Autoren – die politisch-kulturelle Zeitschrift »Der Ruf« wurde wegen Nihilismus und Kritik an den Besatzungsmächten kurz nach ihrer Gründung verboten – war die Gruppe 47 entstanden, eine Versammlung von jungen und kaum bekannten Autoren, die sich gegen die Abstraktion in der Literatur, gegen Pathos und Innerlichkeit wandten und sich für einen klaren Realismus des Unmittelbaren entschieden. Neben Hans Werner Richter gehörten u. a. Alfred Andersch, Günter Eich und Wolfdietrich Schnurre zu den Gründungsmitgliedern. Seit Beginn der 1950er Jahre zählten auch Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Heinrich Böll, Wolfgang Hildesheimer, Reinhard Federmann, Walter Jens und Siegfried Lenz zum Kern der Gruppe.

Ingeborg Bachmann wurde die erste »Medienautorin« beim Wiener Sender Rot-Weiß-Rot und schrieb 1952 ihr erstes Hörspiel »Ein Geschäft mit Träumen«. Für ihren ersten Gedichtband »Die gestundete Zeit«, in dem sie mit der Restauration Nachkriegsösterreichs ins Gericht ging, erhielt sie 1953 den Literaturpreis der Gruppe 47. 1956 folgte der Gedichtband »Anrufung des großen Bären«, 1959–1960 war Bachmann erste Dozentin der neu gegründeten Gastdozentur für Poetik an der Universität Frankfurt. Ihre Liebesbeziehungen zu dem Dichter Paul Celan, dem Musiker Hans Werner Henze und dem Autor Max Frisch schlugen sich in ihrem Werk nieder. Henze vertonte ihre Gedichte und Bachmann schrieb zahlreiche Libretti für Henzes Opern. Von 1958 bis 1962 war sie mit Max Frisch liiert, der die Beziehung jedoch öffentlich beendete – ein Schlag, von dem sich Bachmann nicht erholen sollte. 1965 zog sie nach Rom. Sie entwarf 1965 den Plan zum sogenannten »Todesarten- Zyklus«, der aufzeigt, wie Frauen in Partnerschaften enden: verstummt und isoliert.

1971 schrieb sie den berühmten Roman »Malina«, der in der Wiener Beatrixgasse Nr. 26 und in der Ungargasse 6 und 9 angesiedelt ist. »Nichts ist mir sicherer als dieses Stück der Gasse; bei Tag laufe ich die Stiegen hinauf in der Nacht stürze ich auf das Haustor zu, mit dem Schlüssel schon in der Hand, und wieder kommt der bedankte Moment, wo der Schlüssel sperrt, das Tor aufgeht, und dieses Gefühl von Nachhausekommen, das überschwemmt mich in der Gischt des Verkehrs und der Menschen schon in einem Umkreis von hundert, zweihundert Metern.«

Die weiteren Werke »Der Fall Franza« und »Requiem für Fanny Goldmann« blieben unvollendet. Bachmann erhielt zahlreiche Preise, u.a. 1957 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1961 den Berliner Kritikerpreis, sie war außerordentliches Mitglied der Abteilung Literatur der Akademie der Künste Berlin, 1964 erhielt sie den Georg-Büchner-Preis durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung      in Darmstadt. Die Republik Österreich verlieh ihr 1968 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur und 1971 erhielt sie den Anton-Wildgans-Preis der Vereinigung österreichischer Industrieller.

»Dass Ingeborg Bachmann am 17. Oktober 1973 an den Folgen eines Brandunfalles in Rom gestorben ist«, schrieb die Wiener Pfarrerin Ines Knoll, »habe ich als gerade 14-Jährige erfahren auf Grund einer kurzen Nachrichtenmeldung des Süddeutschen Rundfunks. Ich war zutiefst erschrocken nicht zuletzt wegen der Todesart – wie so viele. Mancherlei Erschrecken reicht ja so weit, dass man sogar annahm, es sei Mord gewesen. Diese Annahme wurde nicht verifiziert, es sei denn, wir rechnen mit dem inwendigen Morden einer Gesellschaft, dessen Opfer Ingeborg Bachmann mithin dennoch geworden ist in ihrem langsamen Sterben.«

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 31 – 33.