Mit Recht wird Zwingli als „Reformator der Gesellschaft“ (Gottfried Locher) bezeichnet; für ihn gab es keine scharfe Trennung zwischen dem Heil der Seele und dem Wohl der Gesellschaft, bzw. zwischen Kirche und Welt. Beide Bereiche bilden eine Einheit unter dem einen „Führer und Hauptmann“ Jesus Christus (These 6). Zwingli unterstrich stets, dass die Richtschnur Christi auch für den weltlichen Bereich gilt und dass das Reich Gottes nicht – im Sinne Luthers – nur unsichtbar und innerlich, sondern auch äußerlich („etiam externum“) ist. Darum müssen Politik, Wirtschaft, Gesellschaft unter das Reich Gottes, das heißt unter seine freimachende Herrschaft gesteilt und an ihr gemessen werden. Von der einzigen Quelle, der Heiligen Schrift, müssen die Linien auch in die „weltlichen“ Bereiche gezogen werden. Diese Bemühungen haben nach Zwingli mit dem Evangelium sehr viel zu tun.

Zwingli sah im Wirken des Wortes Gottes folgendes: Es schafft bereits in den bestehenden Formen der menschlichen Gerechtigkeit Raum für die göttliche Gerechtigkeit. „Göttliche und menschliche Gerechtigkeit“ – so auch der Titel eines der bedeutendsten seiner Werke – sind zwar streng zu unterscheiden, aber sie stehen miteinander in einer intensiven Beziehung: die menschliche Gerechtigkeit wird von der göttlichen kritisiert und gewandelt. Die unterschiedliche Akzentuierung im Vergleich zu einer lutherischen Zwei–Reiche–Lehre ist offensichtlich. Während diese – vereinfachend gesagt – die Unterschiede zwischen dem sogenannten geistlichen und dem weltlichen Reich betont, sieht Zwingli zwar auch die Unterschiede, aber er unterstreicht ihre Zusammengehörigkeit und stellt sie beide unter den direkten Anspruch der göttlichen Gerechtigkeit.

Göttliche Gerechtigkeit ist Gottes Recht, sein Erlösungswerk in Jesus Christus und sein Wirken heute durch den Heiligen Geist. Die große Trennlinie verläuft daher nicht zwischen Kirche und Welt, sondern zwischen den beiden Gerechtigkeiten. Der Inhalt der göttlichen Gerechtigkeit ist die Liebe. Sie ist die Richtschnur; weil Gott als Gerechter seinem Wesen nach Liebe ist, so sollen es auch die Menschen sein. Zwingli verweist wiederholt in gesellschaftlichen Angelegenheiten auf die Bergpredigt, in der die Zusammenfassung der Nächstenliebe zu finden ist. In dieser Form der göttlichen Gerechtigkeit ist auch sein Humanismus, das heißt sein Eintreten für die Menschen – besonders im Zusammenhang mit den kultischen Riten, aber auch in der Absage an den „Verkauf von Menschenfleisch“ (= Anwerbung von Söldnern) – verankert.

Zwingli beruft sich auch sehr oft auf das alttestamentliche Gesetz als ethische Grundlage, in dem er auch das Evangelium sieht, das den Willen Gottes enthält und das die Christen deshalb zu befolgen haben. Auch Gottes Bund mit seinem Volk im Alten Testament ist ein Evangelium. Nach Zwingli hat das Gesetz im Unterschied zu Luthers Auffassung nicht nur einen „usus politicus“, um im politischen Bereich Ordnung zu schaffen und einen „usus paedagogicus“, um die Sünde zu erkennen, sondern das Gesetz ist genauso wie das Evangelium ein Wort des Lebens, das unseren Geist erquickt und ebenfalls auf die Nächstenliebe hinweist. Vereinfachend könnte man sagen, dass Zwingli die Ausformung der rechten Gesellschaft in der konkreten Realisierung und Umsetzung der Nächstenliebe sieht. Die vielfältigen Möglichkeiten der Nächstenliebe lassen sich erkennen, wenn man die verschiedenen Lebensbereiche entsprechend der Zwingli’schen Konzeption untersucht.

Im Sinne der göttlichen Gerechtigkeit hat Zwingli die Arbeit aufgewertet und in ihr nicht etwas Erniedrigendes, sondern den eigentlichen Gottesdienst gesehen: „Die Arbeit ist ein so gut göttlich Ding … gibt gute Frucht, dass der Mensch ohne Sorge seinen Leib reichlich speisen mag, nicht fürchten muss, dass er sich mit dem Blut der Unschuldigen speise und beflecke.“ Heute könnte man sagen, Zwingli wollte durch die Arbeit aller die Ausbeutung überwinden. Die scharfe Verurteilung der Söldnerpolitik hat bei Zwingli außer humanitären Gründen auch einen arbeitsethischen Aspekt: Söldnerdienst lässt wegen des Arbeitskräftemangels wirtschaftliche Möglichkeiten, besonders beim Handwerk, im eigenen Land brachliegen und bringt nur der Geldaristokratie und den Söldnerwerbern ein lukratives Einkommen. Diese „Pensionäre“, die eigentlichen „Aufrührer“ und die wahren „Gottesdienstscheuen“ sind daran schuld, dass die Kluft zwischen Arm und Reich in Zürich so groß geworden ist, dass 6 Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent des Volkseigentums verfügte.

Zwinglis scharfe Kritik am Söldnerwesen stand in engem Zusammenhang mit seiner Wirtschaftspolitik und dabei besonders mit seiner Einstellung zur Eigentumsfrage. So sagte er, Wohlstand könne nicht durch „Handel mit Menschenfleisch“ , sondern nur durch Arbeit geschaffen werden, denn Arbeit sei der einzige gottgewollte Ausweis für das Eigentum. Darum müssten eigentlich die Kriegsgewinnler ihren Reichtum den Waisen und Witwen ohne Entgelt zurückgeben“.

„Daher kommt es, dass Christus die Reichtümer ungerecht oder unrechtmäßig nennt Lukas 16,9, womit ohne Zweifel der Boden und die auf Gottes Erde gewachsenen Früchte gemeint sind Psalm 24,1, und diese lässt er uns ohne Entgelt besitzen und genießen. Wir machen aber das zu unserem Eigentum, was Gott gehört. Das lässt Gott in der Weise gelten, dass wir dieser Güter wegen gleichwohl seine Schuldner und dabei auch verpflichtet sind, das zeitliche Gut allein nach seinem Wort und Gebot zu gebrauchen. Diese Schuld wird niemals erlassen. Deshalb ist jeder, der das zeitliche Gut nicht nach dem Willen Gottes gebraucht, vor Gott ungerecht, obschon er es nicht im Widerspruch mit der menschlichen Gerechtigkeit verwendet. Darum nennt Christus die Reichtümer billigerweise ungerecht, zum Teil darum, weil wir das, was Gott gehört, worüber er uns aber Verwalter sein lässt, nicht nach seinem Willen brauchen.“

Dahinter steckt seine Grundeinstellung, dass Gott der eigentliche Eigentümer sei: „Womit der Boden und die auf Gottes Erde gewachsenen Früchte gemeint sind, und diese lässt er uns ohne Entgelt besitzen und genießen.“ Der Mensch ist darüber nur „Schaffner“, d.h. Verwalter, und nicht Eigentümer. Unter der göttlichen Gerechtigkeit wird Privateigentum radikal relativiert, an seine soziale Verpflichtung als Konkretisierung der Nächstenliebe erinnert, und es wird in den Dienst der Gemeinschaft gesteilt. Nach Locher kommt Zwingli in seinen Äußerungen oft fast der Formulierung „Eigentum ist Diebstahl“ nahe. Auf Zwinglis Betreiben hin hat der Zürcher Große Rat sowohl das „Reislaufen“ (= Söldnerexport) als auch die „Pensionen“ (= Jahresprovisionen für Söldnerwerber) verboten. Das Ergebnis war nicht die befürchtete Wirtschaftsdepression, sondern das Gegenteil: Handel und Handwerk blühten auf und somit die gesamte Wirtschaft.

Die Eigentumsfrage hat sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts besonders in zwei Bereichen zugespitzt: Im frühkapitalistischen Handels-, Bank- und Monopolwesen und in den Belastungen der Bauern. Zwingli hat sein Wort in beiden Bereichen mächtig erhoben. Er verurteilt scharf die Monopolgesellschaften, die die Not der Armen ausnützend ihre Waren zu Überpreisen verkaufen und dadurch die Armut verursachen. Er wirft den Monopolisten vor, die Preise der lebensnotwendigen Waren auf und ab wallen zu lassen, wie das Meer bei Ebbe und Flut: bei Ebbe wird gekauft, bei Flut wird verkauft, und der Unterschied wird eingesteckt.

Zwingli hat sein Wort auch gegen die zunehmende Belastung der Bauernschaft erhoben. Er verlangt die Milderung ihrer Lasten und überhaupt die Abschaffung der Leibeigenschaft, da alle Menschen durch die „Gerechtmachung“ Gottes seine Kinder und somit füreinander Brüder geworden sind. Die Zinsen wollte er auf 5% beschränken, da darüber hinaus die Schulden nicht mehr bezahlt werden könnten und somit besonders die Bauern ihrer Habe verlustig gehen würden. Der Zürcher Rat hat dann tatsächlich 1529 im „Wuchergesetz“ den Zinsfuß auf 5% beschränkt. Zwingli wollte auch den „Zehnten“, eine schwere Belastung der Bauern, durch den „Zwanzigsten“ ablösen, wobei er sich allerdings nicht durchsetzen konnte.

„Will eine arme Kindbettin nun specy (= Salbe) für ihr Kind kaufen, dann wird sie aber hart getroffen. Sie muss den Monopolinhabern Überschatz (= höheren Preis) bezahlen, als das Pulver wert ist. Mit diesem legen sie solche Schätze zusammen, dass sie die Barschaft, die in allen weltlichen Händen befinden, an sich reißen.“

Die endgültige Aufhebung der Leibeigenschaft im Sinne von Zwingli und die Milderung der Belastungen für die Bauern in Zürich 1525 haben viel dazu beigetragen, dass der deutsche Bauernkrieg mit den berechtigten Forderungen der Bauern nicht auf die Schweiz übergriff.
Zwingli hat auch klar gesehen, dass das Sozial- und Fürsorgewesen nicht eine Almosenangelegenheit bleiben kann, sondern rechtlich und strukturell verankert werden muss als ein Recht der Bedürftigen. Die Güter der Erde gehören als Gottes Gabe allen Menschen – sie müssen nur ausgeteilt werden. Das Mittelalter kannte auch die Fürsorge, allerdings beruhte sie auf dem Almosenwesen. Zum Beispiel betonte die Zürcher „Armenordnunq“ von 1520: wer Arme unterstützt, der sorgt für sein Seelenheil; daher werden Bettelei und Almosen anerkannt. Die neue Zürcher Armenordnung von 1525 jedoch, unter dem Einfluss von Zwingli entstanden, sah ganz anders aus: sie verbot die Bettelei, dafür wurde das Sozialwesen vom Zürcher Rat organisiert. Die eingezogenen Klöster- und Kirchengüter wurden zweckgebunden einer eigenen Kasse zugeführt und für Armenpflege, Verköstigung und Beherbergung der Bedürftigen verwendet. Die aufgelassenen Klöster wurden in Spitäler und Herbergen umgewandelt und von derselben Kasse unterhalten. Das Entscheidende bei den Anfängen eines organisierten Sozialwesens war der Übergang von individueller Caritas zum Sozialstaat, d.h. zu strukturellen Formen der Lösung der sozialen Frage.

Im Bereich der Obrigkeit der Stadtrepublik Zürich vertrat Zwingli die Relativität der sogenannten obrigkeitlichen Macht. Sie sei bloß Verwalter und „Schaffner“, nicht aber Inhaber der Macht, und ihre Aufgabe bestehe nicht in Gewaltausübung, „sondern in einem Dienst am Evangelium“. Der Staat hat im Relativen dem nachzueifern, was die Liebe will: aus einem Staat einen Ort zu machen, wo das Leben wahrhaft menschlich wird; wenn er das nicht tut, dann ist Kritik und Widerstand am Platz. Die Obrigkeit soll besonders die Schwachen und Armen vor den Übergriffen der Mächtigen und Reichen beschützen.

Dieser Gedanke erinnert daran, dass das Subjekt des Staates das Volk ist. Zwingli war in diesem biblischen Sinn demokratisch und volksverbunden. Sein demokratisches Verständnis ist auch daran ersichtlich, dass er die Abwahl von Körperschaften und gewählten Räten befürwortet, falls sie ihre Aufgaben nicht erfüllen oder gegen das Volk agieren.

Nach Auffassung einiger Historiker hat durch das Wirken Zwinglis der Große Rat in Zürich – und damit die Vertreter der Handwerker – einen Machtzuwachs auf Kosten der Geldaristokratie und des Adels erhalten; also die Entscheidungen sind im Sinne einer „Demokratie“ von einzelnen Personen auf gewählte und delegierte Körperschaften übergegangen. Daraus ist klar ersichtlich, dass Zwingli jeglicher Theokratie fernstand. Er erstrebte allerdings die innere Leitung auch der öffentlichen Dinge durch Gottes Geist. Die angeführten Beispiele liefern dafür einen klaren Beweis.

Ähnliche Missverständnisse gab es bei einigen Historikern über die Zürcher Ehe- und Sittenordnung, die 1525 von Zwingli angeregt wurde. Sie war in ihrem Entstehen nach nicht eine Art Sittenpolizei, sondern löste das bischöfliche Eherecht ab und entsprach dem genossenschaftlichen Bewusstsein der Bürger. Sie verfolgte pädagogische Ziele und zeigte starke Verwandtschaft mit dem neuen Sozialwesen in einer Stadt, in der vor Zwinglis Zeiten 8% der Bevölkerung aus Prostituierten bestand.

Zwinglis gesellschaftspolitische Konzeption, deren Kern das Ineinandergreifen von menschlicher und göttlicher Gerechtigkeit ist, wurde von „links“ und von „rechts“ angegriffen. Die „linken Radikalen“, seine früheren Verbündeten, die Täufer, wollten „bereits jetzt die göttliche Gerechtigkeit verwirklichen und kündigten daher jede Kooperation mit der „sündigen Welt“ – der staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen Ordnung. So verwarfen sie die Kindertaufe, den Eid, öffentliche Ämter, Steuern, etc. Ihnen gegenüber betont Zwingli, dass das göttliche Recht erst am Jüngsten Tag zur Gegenwart wird. Wir leben jetzt in der Zeit „des vorletzten Tages“, und da geht es um etwas Relatives, um die Erkenntnis, dass die menschlichen Verhältnisse verändert werden können, und nicht um einen Auszug aus der Welt. Zwinglis Ansatz vom „vorletzten Tag“ klingt wie eine Vorwegnahme von Dietrich Boenhoeffers Unterscheidung im sozialethischen Bereich zwischen dem „Letzten“ und dem „Vorletzten“.

Ungeachtet Zwinglis Ablehnung der Täufer waren diese eine beachtenswerte, allerdings auch vielfältig unterdrückte und verleumdete Strömung der Reformation und zwar nicht nur in der Schweiz, sondern auch in Deutschland und besonders in Österreich, wo sie einen großen Zulauf hatten. Viele Fragen, die heute die Christen, aber auch die ganze Menschheit bewegen, wie Menschenrechte, Gewaltverzicht, Toleranz, persönliches Bekennen und persönliche Entscheidung und vor allem der Gemeinschaftsgedanke, haben die Täufer, freilich noch in rudimentären Formen, als lebens- und glaubensnotwendige Fragen erkannt. „Wiedertäufer“ wurden sie bezeichnet, weil sie die Säuglingstaufe ablehnten und für eine Erwachsenentaufe – d.h. für eine bekennende Taufe eingetreten sind. Wegen ihres Glaubens wurden viele von ihnen hingerichtet, verfolgt und vertrieben, so auch in Österreich.

Die wechselvollen und auch ambivalenten Beziehungen zwischen Zwingli und Täufern kann man am Werdegang einer ihrer führenden Gestalten, Balthasar Hubmairs, sehen, der fast so alt war wie Zwingli und ebenfalls Theologe. Er führte die Reformation in der Stadt Waldshut, einem Grenzort zu Deutschland, im Sinne Zwinglis durch, den er persönlich gekannt und von dem er viele Impulse erhalten hat. 1525 schloss Hubmaier sich allerdings den Täufern an, wandelte die Gemeinde Waldshut in diesem Sinne um und führte sogar eine theologische Auseinandersetzung mit Zwingli über die Kindertaufe. Dennoch floh er nach Zürich, nachdem die kaiserlichen Truppen Waldshut besetzt hatten. In Zürich hat er seine Lehre mehrmals widerrufen, aber dann öffentlich wieder gegen die Kindertaufe gesprochen. Der Magistrat hat ihn daraufhin einige Male verhaftet. Zwingli hat aber stets für ihn persönlich interveniert. Schließlich wurde er geheim, vielleicht wieder mit Zwinglis Mithilfe, über die Grenze gebracht. Er wandte sich dann nach Nikolsburg in Mähren, dessen evangelische Gemeinde er in eine täuferische umwandelte. Aus diesem Grunde wurde er 1528 in Wien als Ketzer verbrannt.

Aber auch von „rechts“ war Zwingli Angriffen ausgesetzt. Auf der „rechten“ Seite wollten die Vertreter des Adels, der Hierarchie und der Geldaristokratie die göttliche Gerechtigkeit von der menschlichen fernhalten, die beiden total auseinanderreißen, um die „menschliche Gerechtigkeit‘ umso selbstherrlicher manipulieren zu können und somit die ungerechten gesellschaftlichen Verhältnisse zu zementieren. Sie fanden sich unter der Fahne des alten Glaubens zusammen, obwohl die Gegensätze zwischen Zürich und den katholisch gebliebenen fünf Innerschweizer „Orten“ – heute „Kantone“ genannt – in ihrem Wesen weitgehend wirtschaftliche und gesellschaftliche Ursachen hatten; Leibeigenschaft, Angewiesensein auf Söldnerexport und Vorherrschaft des Adels in der Innerschweiz – florierende Wirtschaft durch Aufhebung der Leibeigenschaft und das Verbot des Söldnerdienstes sowie steigende Bedeutung der handwerklichen Mittelschicht in Zürich.

Dass die Kontroversen primär im gesellschaftlichen Bereich lagen, zeigt einfach schon die Tatsache, dass der Zürcher Leutpriester – nach eigenem Zeugnis – der Geldaristokratie und der hohen Geistlichkeit erst dann suspekt geworden ist, als er 1520 die päpstliche Pension endgültig zurückwies, die er von seiner Glarner Zeit her noch jährlich bezogen hat als Belohnung dafür, dass viele seiner Pfarrkinder als Söldner im päpstlichen Heer dienten. Niemand in diesen Kreisen hatte bis dahin Anstoß genommen, dass Zwingli – nach eigenem Zeugnis – schon Jahre vorher „das reine Evangelium“ verkündigt hat.

Diese Gegensätze wurden artikuliert, pointiert und verschärft durch die konfessionellen Unterschiede mit ihren praktischen Folgeerscheinungen und durch Zwinglis Eintreten für eine Verbindung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit.

Zwingli bezeichnete gelegentlich seine Grundkonzeption als den „mittleren Weg“. Dieser Weg ist weder der Goldene Mittelweg noch der Weg des Kompromisses, sondern die Artikulation einer dynamischen Spannung zwischen Relativem und Absolutem, zwischen göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit. Zwinglis Gesellschaftskonzeption besagt letztlich, dass rechte Gesellschaft und rechte soziale Verhältnisse stets zur bußfertigen Wandlung des Menschen aber auch der Gesellschaft herausfordern, dass die menschliche Gerechtigkeit zur Aufgabe des christlichen Glaubens werden muss: Christen sind zur politischen Verantwortung herausgefordert.

Zwinglis Spuren kann man in der Geschichte immer da finden, wo Christen und Kirchen für gesellschaftspolitische Verantwortung eingetreten sind, auch wenn es um gefahr- und opfervollen Widerstand ging. Es ist kein Zufall, dass sowohl das soziale Bewusstsein als auch die Absage an Obrigkeitshörigkeit in reformierten Gegenden eher zu Hause war als sonstwo. Nicht zufällig hat die religiös–soziale Bewegung ihren Anfang in Zürich genommen. Mit Recht wurde auch darauf hingewiesen, dass Zwingli der Vater der „Bekennenden Kirche“ im Widerstand gegen Rassenpolitik und Führerprinzip im Nationalsozialismus sei. Die Veränderung der irdischen Verhältnisse im Lichte der Herrschaft Christi zu einer menschenwürdigen Ordnung ruft stets den Zürcher Reformator ins Gedächtnis.

Balázs Németh
Aus: Erika Fuchs, Imre Gyenge, Peter Karner, Erwin Liebert, Balázs Németh: Ulrich Zwingli Reformator. Die Aktuelle Reihe Nr. 27, S. 11–17.

 

Literatur:
Gottfried W. Locher. Die Zwinglische Reformation im Rahmen der europäischen Kirchengeschichte. Leinen, 714 Seiten, 21 Abb., vier Kunstdrucktafeln, eine Faltkarte, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen und Zürich, 1979.

Ulrich Gäbler, Huldrych Zwingli. Leben und Werk, Ln., 163 Seiten, Verlag C.H. Beck, München, 1983. Die neueste Biographie von Zwingli – verfasst von dem österreichischen Kirchenhistoriker Gäbler, der derzeit in Amsterdam lehrt.

Wilhelm H. Neuser. Die Reformatorische Wende bei Zwingli. Kart., 160 Seiten, Neukirchner Verlag, 1977.

Markus Jenny. Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern. Ln., 303 Seiten, TVZ Verlag Zürich, 1983.

Huldreich Zwinglis sämtliche Werke (Corpus Reformatorum), TVZ Verlag Zürich. Walter J. Hollenweger. Huldreich Zwingli zwischen Krieg und Frieden. 58 Seiten, Chr. Kaiser Verlag, 1983. Zwinglis Leben in fiktiven Briefen seiner Frau.