In der Hauptmartikel der Universität Wien ist unter den 213 Studenten des Wintersemesters 1498/99 folgender Name eingetragen: „Vdalricus Zwinglii de Glaris“. Es besteht kein Zweifel, dass es sich bei diesem Hörer um den damals im fünfzehnten Lebensjahr stehenden späteren Reformator Ulrich Zwingli handelt. Er studierte an der sogenannten Artistenfakultät, wo er nach dem damals üblichen Studiengang eine Art Grundausbildung in den ,,7 freien Künsten“ (artes liberales) erhielt. Noch ein zweites Mal, im Sommersemester 1500, ist er, diesmal als „Vdalricus Zwingling de Lichtensteig“ in Wien eingetragen. Unter genau der gleichen Bezeichnung findet er sich dann 1502 an der Universität Basel, wo er vier Jahre später zum magister artium promoviert und sein Theologiestudium beginnt.

Hat Zwingli also vier Jahre seines Lebens (1498-1502) in Wien verbracht? Diese Frage ist in der Forschung sehr umstritten, liegt doch manches Rätsel über seinem Wiener Studienaufenthalt. Das schwierigste Problem stellt die erste der genannten Eintragungen in der Matrikel. Diese Eintragung ist nämlich durchgestrichen und von anderer Hand das Wort „exclusus“ hinzugefügt. „Exclusus“ war terminus technicus für die schwerste aller Strafen, welche die Universität zu vergeben hatte, nämlich die Ausschließung aus ihrem Verbande. Die möglichen Gründe dafür waren vielfältig und reichten von schwerer Kriminalität bis zur Teilnahme an studentischen Raufhändeln. Im Falle Zwingli ist aus den Quellen nicht der geringste Hinweis auf den Ausschließungsgrund zu finden. Die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, dass dieser Vermerk erst nachträglich in der bald beginnenden Zeit der Gegenreformation vorgenommen wurde, um die Wiener Universität von der Schmach zu reinigen, einen Kirchengegner geformt zu haben. Für diese These spricht, dass bereits ab 1524 der frühere Generalvikar des Bischofs von Konstanz, Johannes Faber, in Wien höchst rührig zur Unterdrückung der Reformation tätig war. Faber, ab 1531 Wiener Bischof, kannte „seinen“ Zwingli von der ersten Zürcher Disputation (1523) persönlich sehr genau und hielt ihn für noch gefährlicher als Luther. In diesem Klima erscheint eine nachträgliche Streichung Zwinglis, wobei die zweite Eintragung übersehen wurde, als durchaus möglich, wenn nicht wahrscheinlich.

Wesentlich sicherer auszumachen ist das Motiv für die Wahl Wiens als Studienort. Die Wiener Universität war nämlich in jenen Kreisen West- und Mitteleuropas im Gespräch, die sich der neuen Geistesströmung des Humanismus geöffnet hatten. War doch für Wien auf Betreiben des reformerisch gesinnten Landesherrn Maximilian im Jahre 1497 der „Erzhumanist“ Conrad Celtes berufen worden, der bis zu seinem Tode 1508 hier an der Artistenfakultät lehrte. Schon vor Celtes war der, dann ebenfalls in St. Stephan (Tirnakapelle) begrabene, gelehrte Cuspinian nach Wien gekommen. Weitere Humanisten folgten, und dies hatte nach einer Zeit des Niedergangs (1484: 5 Neuimmatrikulierte!) zu einer Blüte im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts geführt, die noch zwei weitere Jahrzehnte andauern sollte.

Zwinglis Familie sympathisierte mit dem Humanismus, was auch die Auswahl der ersten Lehrer Huldrychs in der Schweiz zeigt. Wien war diesbezüglich gerade „in“, und so ist die Entscheidung für diesen Studienort nicht allzu überraschend. Merkwürdig hingegen, dass Zwingli ausgerechnet in jenem Jahr 1502 verließ, als das humanistische Reformprogramm des Celtes und seiner Freunde endlich gegen den Widerstand der im Kern immer noch scholastisch orientierten Fakultät zu greifen begann und sich in der Studienordnung durchsetzte.

Wir wissen nichts darüber, welchen Vorlesungen Zwingli in Wien gefolgt ist und wo und wie er hier gelebt hat. Er hat wohl auch die entscheidende humanistische Prägung seines Lebens erst in Basel (persönliche Bekanntschaft mit Erasmus!) erhalten. Inwieweit die Wiener Studienzeit für den Reformator Zwingli von Bedeutung war und welche Eindrücke ihn bleibend geprägt haben, ist sehr schwierig zu beantworten, zumal er selber darüber schweigt. Tatsache ist jedenfalls, dass er später eine ganze Reihe von Schweizer Studenten ausdrücklich nach Wien empfohlen hat.

Darunter befand sich auch sein jüngerer Bruder Jacob Zwingli, der in Wien 1517 als Student plötzlich und unerwartet verstorben ist. Er wurde auf dem Friedhof des Schottenklosters beigesetzt, der bis 1751 bestand. Er befand sich etwa an jener Stelle auf der Freyung Nr. 7, wo sich heute das sogenannte „Schubladkastenhaus“ erhebt. Ein im Wiener Kunsthistorischen Museum aufbewahrtes Gemälde Canalettos, welches die Freyung darstellt, lässt deutlich die von Bäumen überragte Friedhofsmauer erkennen.

Erwin Liebert
Aus: Erika Fuchs, Imre Gyenge, Peter Karner, Erwin Liebert, Balázs Németh: Ulrich Zwingli Reformator. Die Aktuelle Reihe Nr. 27, S. 18-19.