Von Hannelore Reiner

Im Jahr 2004 sollte ich in einer römisch-katholischen Pfarre in Oberösterreich einen Nachmittag zum Thema Ökumene gestalten. Ich hatte einen Stoß Texte der Charta Oecumenica (im Folgenden kurz als „Charta“ bezeichnet) dabei. Keiner kannte das kleine grüne Heft. Das war für mich nicht weiters verwunderlich, schließlich ist der Weg von ökumenischen Körperschaften und Kirchenleitungen hin zu den Gemeinden, von Wien nach OÖ, doch mitunter sehr weit.
Drei Jahre später war ich allerdings zur Vorbereitung der 3. Ökumenischen Versammlung in Sibiu / Hermannstadt eingeladen, um vor den römisch-katholischen und evangelischen Pfarrern und Pfarrerinnen des Burgenlands über die Charta zu sprechen. Zu meinem Erstaunen war auch hier die Kenntnis der „Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa“ – so der Untertitel der Charta – nicht merklich größer. Der Rezeptionsprozess scheint mir bis zur Stunde nur zögerlich gestartet zu sein und zu laufen. Dazu kommt, dass 2013 m.E. nach der Text zwar in keiner Weise überholt, jedoch nicht mehr brandaktuell ist und außerdem von der „wachsenden Zusammenarbeit“ im Alltag der Kirchen meist nicht allzu viel zu spüren ist.

Im Folgenden soll nun in Kürze der Rezeption und Aufnahme der Charta in der Evangelischen Kirche in Österreich nachgegangen werden. Denn mitunter kann eine zwar zahlenmäßig kleine, dafür aber ökumenisch engagierte Kirche einen Weg vorzeigen, der auch für andere Kirchen gangbar erscheint.

Von Graz nach Straßburg

Eine Frucht der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz 1997 war der Auftrag zur Erstellung eines Textes, der Grundlinien für eine gelebte Ökumene der Kirchen in Europa aufzeigen sollte. Eine ökumenisch zusammengesetzte Arbeitsgruppe traf sich erstmals 1998 in Rom und legte bereits zwei Jahre später einen mit dem römisch-katholischen Rat der Europäischen Bischofskonferenzen (CCEE) und auch von der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) akkordierten Text vor. Der Inhalt der Charta Oecumenica – wie der programmatische Titel lautet – sollten Leitlinien sein, die aber weder einen lehramtlich-dogmatischen noch einen kirchenrechtlich-gesetzlichen Charakter haben. Stattdessen wird von den Kirchen eine Selbstverpflichtung gefordert, mit der sie sich die einzelnen Themen zu eigen machen und danach handeln.

Von österreichischer Seite nahm am Entstehungsprozess der Charta nur der griechisch-orthodoxe Theologe Grigorius Larentzakis teil. Umso eifriger bemühten sich protestantische Theologen und Theologinnen in Österreich um Bearbeitung des Textes. So gab es bereits 2000 Änderungsvorschläge von Seiten des Theologischen Ausschusses der Synode A.u.H.B. Von Anfang an war klar, dass die beiden protestantischen Kirchen keine gemeinsame Stellungnahme abgeben werden, daher auch nicht gemeinsam unterfertigen werden. Eine Arbeitsgruppe des Ökumenischen Rats der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ) hatte sich ebenfalls mit dem Textvorschlag der Charta befasst und manches für kritikwürdig befunden.

Dennoch wurde der Text in deutscher Originalsprache in Druck gelegt und im Rahmen eines ökumenischen Jugendtreffens in Straßburg 2001 feierlich durch den damaligen Präsidenten des CCEE, Kardinal Miloslav Vlk und den Präsidenten der KEK, Metropolit Jeremie, unterzeichnet. Sie empfahlen den europäischen Kirchen die Charta als Basistext in ihrem jeweiligen Kontext anzunehmen.

Arbeit mit und an der Charta

Bereits im April 2001 wurde die Charta im Amtsblatt der Evang. Kirchen in Österreich veröffentlicht. Die Kirchenleitung war der Meinung, dass eine Annahme der Charta durch die einzelnen Kirchen Österreichs dem ökumenischen Klima dienen würde.

So ging es dann auch Schlag auf Schlag. Im September 2001 nahm der Synodalausschuss A.B. die Charta an. Einzig die Verwendung des Begriffs „katholisch“ machte manchen Schwierigkeiten, aber dies verhinderte schließlich die Identifikation mit den Leitlinien nicht. Bei der Vollversammlung des ÖRKÖ im Oktober desselben Jahres wurden zwei Kirchen genannt, die bereits die Charta unterschrieben hatten: Die Evangelische Kirche A.B. und die Evangelisch-methodistische Kirche. Damit waren diese beiden evangelischen Kirchen Vorreiterinnen in der offiziellen Akzeptanz der Leitlinien. Gerne nahm daher der damalige lutherische Bischof Herwig Sturm auf, was in der Catholica-Konferenz im Dezember 2001 proklamiert wurde: „Die Charta ist seit 1000 Jahren das erste ökumenische Dokument, das fast alle Kirchen in Europa unterzeichnet haben“.

Damit hatte Sturm freilich auch im Blick auf Österreich weit vorausgedacht, denn zu diesem Zeitpunkt stand so manche Unterzeichnung noch aus. Womit er aber gewiss recht hatte, war die Einschätzung, dass „Minderheitskirchen … großes Interesse an der Charta (haben), weil die Kirchen gleichrangig verstanden werden.“

So einfach die Annahme der Charta durch die Kirchen leitenden Gremien in der Evangelischen Kirche in Österreich anscheinend über die Bühne ging, so gab es dennoch auch kritische deutsche Stimmen, die vor allem die Selbstverpflichtung der Kirchen ankreideten. Aber auch positive Beispiele sind anzuführen. So verfasste der damalige römisch-katholisch Bischof der Diözese Eisenstadt Paul Iby, gemeinsam mit dem evangelischen Superintendenten Manfred Koch ein Schreiben Anfang des Jahres 2004 an alle burgenländischen Gemeinden, in dem sie gemäß der Charta dazu aufriefen, „den Dialog mit unseren jüdischen Geschwistern zu suchen und zu intensivieren“.

Was sich aber als fast unmöglich erwies, war das Vertraut-werden der Gemeinden mit den Leitlinien der Charta. Zwar nahm die KEK im Blick auf die 3. Ökumenische Versammlung in Sibiu / Hermannstadt noch einmal einen Anlauf, die Leitlinien „unters Volk“, ja unter die „Kirchenvölker“ Europas zu bringen, doch tatsächlich gelungen erscheint mir dies zumindest für die Situation in der Evangelischen Kirche in Österreich nicht zu sein.

Die Charta als Wegweiser für Ökumene vor Ort

Eine Amtsblattveröffentlichung hat in der Evangelischen Kirche in Österreich einen hohen Stellenwert. Das galt auch für die frühe Veröffentlichung der Charta. Das bedeutet jedoch nicht, dass nun in den Gemeinden mit der Charta gelebt und gearbeitet wird.

Gerade im Blick auf 2017 und das Reformationsjubiläum, das immer wieder auch als ökumenischer Stolperstein gesehen wird, könnten die Leitlinien der Charta wieder neu herangezogen und bedacht werden. Wie steht es etwa um den Erfahrungsaustausch im Umgang mit Menschen, die von einer Kirche zur andern konvertieren möchten? Wie oft wird – außer in der Gebetswoche für die Einheit der Christen – für und mit den Schwesterkirchen am Ort gebetet und gefeiert? Wie werden die Erwartungen der Jugendlichen am Ort in die ökumenischen Schritte einbezogen, sodass Ökumene nicht zu einem Steckenpferd von einschlägigen Liebhabern verkommt? Wie werden in den diversen Heimen und Häusern Asylsuchende vor Ort auf und angenommen? Wo wird die Stellung und Gleichberechtigung der Frauen in allen Lebensbereichen gestärkt?

Die Charta ist, wie eingangs gezeigt, aus der 2. Ökumenischen Versammlung in Graz erwachsen und stand damit von Anfang an unter dem Thema „Versöhnung“. Die Meldungen aus den Bürgerkriegsgebieten im Nahen Osten aber auch Horrorszenarien, die sich im familiären Bereich ebenso in Österreich zutragen, lassen Versöhnung als immer neue Aufgabe erscheinen, denen sich Christen und Christinnen in besonderer Weise verpflichtet wissen. Dafür aber bietet die Charta eine spannende und herausfordernde Grundlage – so sie gelesen und umgesetzt wird.

 

Literatur:

  • Charta Oecumenica, Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa, St.Gallen 2001.
  • Grigorius Larentzakis, Charta Oecumenica, in: Begegnung und Inspiration, 50 Jahre Ökumene in Österreich, Wien 2008.
  • Reinhard Frieling, Evangelischer Bund und Charta Oecumenica, in: Amt und Gemeinde 6/7/8 2003, S 124.
  • Hansfrieder Hellenschmidt, Die seltsamen Visionen der Charta Oecumenica, in: Informationsbrief der Bekennenden Bewegung 206, 2001.

(Erstveröffentlicht in: Charta Oecumenica gestern, heute, morgen. Herausgegeben vom Ökumenischen Forum Christlicher Frauen in Österreich)

 

Weblinks (Auswahl):