von LUDWIG SCHEIDER

Die nordamerikanische Kirchenhistorikerin Jane Dempsey Douglass z.B. zeigt, dass der französische Reformator Johannes Calvin im Vergleich zu anderen vor und nach ihm ein geradezu feministischer Theologe ist. In einem entscheidenden Punkt ist Calvin »radikaler« als Luther und Zwingli; er ist der einzige unter den Reformatoren, der das paulinische Gebot »Die Frau schweige in der Gemeinde- als unwesentlich, als gleichgültig abtut. Er macht aus dem ewigen, göttlichen Gesetz des Redeverbotes für Frauen eine menschliche von Zell und Ort abhängige, situationsbezogene Verordnung, die in christlicher Freiheit geändert werden kann. Im Zusammenhang der Frauenfrage schreibt Calvin in seiner »Christianae religionis institutio« von 1636 zum paulinischen Verständnis von Kirchenordnung folgendes:

„Für die erste Gruppe; also für Einrichtungen, die der Ehrbarkeit dienen, gibt es Beispiele bei Paulus; so z.B., dass Frauen nicht in der Gemeindeversammlung lehren sollen und dass sie mit verhülltem Haupt in der Öffentlichkeit erscheinen sollen (1. Kor. 11,5 und 14,3.ff.). Was, hängt die Religion etwa am Kopftuch der Frau, so dass es sündig für sie wäre, mit bloßem Haupt auszugehen? Oder ist jene Verordnung des Paulus, dass die Frauen schweigen sollen, so heilig, dass sie nicht ohne das schlimmste Verbrechen verletzt werden könnte? Keineswegs. Wenn eine Frau sich beeilt, ihrer/ihrem Nächsten zu helfen, macht sie nichts falsch, wenn sie mit bloßem Haupt herbeikommt. Und es gibt Situationen, wo es ihr viel besser ansteht, zu reden, als anderswo zu schweigen … Aber es sollten trotzdem die Gewohnheiten der jeweiligen Gegend gelten, was in diesen Dingen zu tun oder zu lassen ist, ja die Menschlichkeit selbst und der Grundsatz der Bescheidenheit schreiben es vor: Wenn jemand sich aus Unwissenheit oder Vergesslichkeit darin irrt, wird ihm kein Vorwurf gemacht … wir richten hier kein ewiges Gesetz für uns auf, welches es erforderte, dass nichts mehr geändert werden kann. Den ganzen Sinn und Gebrauch dieser Regeln müssen wir auf die Auferbauung der Kirche richten. Der Aufbau der Gemeinde erfordert es, dass nicht nur etwas geändert werden kann, sondern dass das, was umgewandelt wurde, dann nachher auch von uns ohne Verdruss in der Praxis beachtet wird.«

Erstaunlicherweise will Calvin in seiner Argumentation das Redeverbot für Frauen aus der Sphäre der unumstößlichen göttlichen Gebote in den Bereich der unerheblichen, veränderbaren, weil menschlichen Gewohnheiten und Bräuche, der »Adiaphora«, herunterholen:

Das Schweigegebot für die Frau hat nach Calvin keinen anderen Stellenwert, als die Kleiderfragen das Kopftuch betreffend. Das zeigen auch die flankierenden Beispiele von der Gebetshaltung und den Bestattungsbräuchen, die ja auch der menschlichen Sitte und Gewohnheit unterworfen sind und nicht ewiger göttlicher Weisung. Wenn es dem Aufbau der Kirche dient und dem Leben der Gemeinde entspricht, kann sich Calvin also tatsächlich predigende Frauen vorstellen. Wie kommt Calvin zu einer so »frauenfreundlichen« Haltung? Woher hatte Calvin die Idee, dass die Unterordnung der Frauen den menschlichen Ordnungen und nicht dem Gesetz Gottes angehört, mit der er unter allen systematischen Theologen seiner Zeit, ob römisch-katholisch oder protestantisch, allein dasteht?

Die französischen Humanistenkreise, denen Calvin angehörte, und die protestantischen Frauen in Genf kommen hier in Frage: Jeanne de Jussie, eine Genfer Nonne, die die beginnende Reformation in der Stadt dokumentiert hat, berichtet von zwei Frauen, die im Genfer Konvent predigten. Die eine, Marie Dentière – aus der Picardie wie Calvin – war Äbtissin gewesen. Sie hatte sich einen Mann genommen, predigte jetzt und warb Menschen für die reformatorische Sache. Eine andere Predigerin ist die Apothekersfrau Claudine Levent, von den Nonnen angefeindet, von den Protestanten aber als »heiliges Geschöpf, von Gott erleuchtet« verehrt. Nach früh-christlichem Vorbild gab es auch vor Calvins Ankunft in Genf Diakoninnen und Diakone, Frauen und Männer, die sich um Bedürftige und sozial Schwache kümmerten. Marie Dentière, Autorin mehrerer anonym veröffentlichten Bücher, hat unter anderem an Margarete von Navarra eine »Verteidigung der Frauen« geschrieben. Später, als Calvin in Straßburg war, hat sie sich für seine Rückkehr nach Genf eingesetzt. Dentière, die von der Reformation in Genf als der »Befreiung aus dem Sklavenhaus Ägyptens« spricht, hat besonders die reformatorische christliche Freiheit verinnerlicht. Sie litt darunter, dass weder in ihrer Kultur noch in ihrer Kirche die Frauen gleichberechtigt waren. Auf dem Hintergrund der »Genfer Verhältnisse«, der predigenden und lehrenden Frauen, ist Calvins These erst in ihrer ganzen Tragweite erkennbar: In Fragen der Kirchenordnung sollen sich die Kirchen nach den örtlichen Verhältnissen richten, die Unterordnung der Frauen ist eine veränderbare bürgerliche Konvention. Auch wenn mit zunehmender Institutionalisierung der Reformation in Genf auch die alte Rollenverteilung von Mann und Frau sich wieder mehr durchsetzte, überhöht Calvin sie nicht theologisch, sondern er gibt dem Verhältnis von Männern und Frauen einen Platz unter den veränderbaren menschlich-politischen Ordnungen. Damit trifft er die Entscheidung für eine größere Freiheit der Frauen, nicht nur in der Kirche, die bis heute noch nicht ganz verwirklicht ist.

 

Aus: Thomas Hennefeld und Peter Karner (Hg.), Johannes Calvin – Vom Katholikenschreck zum Mann der Ökumene. Ein Lesebuch zum 500. Geburtstag des Reformators. (2009, Verlag Der Apfel, Wien) S. 130-131.