von BALÄZS NEMETH

Es fällt auf, dass in vielen Publikationen anlässlich des heurigen Calvin-Jubiläums über dessen Wirkung in den osteuropäischen Ländern gar nichts oder nur sehr sporadisch berichtet, und der Genfer Reformator generell als „Reformator Westeuropas“ vorgestellt wird. Dieser Umstand springt besonders ins Auge, wenn man Publikationen von 1909, als Calvins 400. Geburtstag gefeiert wurde, in die Hand nimmt, die durch die Bank Calvins Impulse für Böhmen, Mähren, Polen und Ungarn ausführlich würdigten. Die Gründe für diesen Unterschied sind weitgehend wahrscheinlich politischer Natur. Sie gehen auf die nationalsozialistische Zeit zurück, als in Deutschland mit vollem Stolz eine Linie von Luther über Bismarck zu Hitler gezogen wurde. Um die Reformation und die evangelische Kirche nicht pauschal in Misskredit zu bringen, hat man daraufhin in der angelsächsischen Welt über eine westeuropäische Reformation mit der führenden Gestalt Calvin zu sprechen begonnen. Diese Bemühungen kamen wiederum Max Weber zu pass, der zwischen Calvinismus und Kapitalismus bzw. zwischen Calvinismus und der bürgerlichen Schicht eine enge Beziehung bzw. Verflechtung statuierte. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurde in den USA nicht ohne massiven Widerstand – Luther von seinem odiösen Ruf, Hitlers geistiger Ahne zu sein, befreit. Das hat aber kaum etwas daran geändert, dass Calvin weiterhin als Reformator des Westens betrachtet wurde. Dabei spielten zwei Faktoren eine nicht unerhebliche Rolle: In der neueren Geschichtsschreibung herrschte die Auffassung, dass die Reformation eine städtische Angelegenheit gewesen sei, sie also die osteuropäischen ländlichen Strukturen nicht betroffen habe. Außerdem suggerierte der Kalte Krieg ein neues Europaverständnis, dass nämlich Europa am Eisernen Vorhang endete. Dazu kommt noch, dass der Gedankenaustausch zwischen Historikern diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs fast versiegt war.

Einerseits ist es berechtigt, auf diese historische Situation hinzuweisen, andererseits muss man jedoch auch die maßgeblichen Impulse Calvins auf die osteuropäischen Länder ins Auge fassen, die sehr vielfältig waren und die auch Calvins Bild in einen breiteren Horizont stellen, so dass man hier neue Facetten erkennen kann. Das gilt für Tschechien, wo man Calvins Impulse am Werk des großen Pädagogen und Mann der Toleranz, Amos Comenius (1592-1670) erkennen kann, ebenso wie für Polen, wo Calvins Briefpartner, der Aristokrat Johannes a Lasco (1499- 1560), dessen Kirchenordnung in Polen umsetzte.

Modellhaft möchte ich hier ausführlicher auf Calvins Impulse auf Ungarn eingehen, da ich mit diesen eng vertraut bin bzw. durch sie sozialisiert wurde. Sehr treffend fragte der bedeutende ungarische Dichter Gyula lllyés (1902-1983) in seinem Gedicht „Vor dem Reformationsdenkmal in Genf stehend“: „Glaubst du, dass das Ungartum in irgend einer Weise existieren würde – wäre Calvin nicht gewesen? – Ich glaube es nicht“. Auf diesem Denkmal steht nämlich neben den anderen Größen der Reformationszeit auch die Statue des Fürsten von Siebenbürgen lstván Bocskai. Der Dichter hat zweifellos Recht, denn Calvins Ideen haben die Ungarn, und zwar nicht nur die reformierten, und deren Mentalität sehr stark geprägt. Untenstehend möchte ich nur einige davon aufgreifen.

1. Der wichtigste Punkt

ist, dass die Reformierten in Ungarn vom 16. Jahrhundert an der mittelbäuerlichen Schicht angehörten. Die wirtschaftliche Lage im Land hatte sich im 16. Jahrhundert radikal geändert: Sie wurde von der westeuropäischen Entwicklung abgekoppelt, und es vollzog sich eine Rückentwicklung vom Ackerbau zur intensiven, fast nomadisierenden Viehzucht. Die ungarischen Rinder wurden ein wichtiges Importgut auf den deutschen und österreichischen Märkten. Diese Viehzüchter und -händler waren reformiert und lebten in den großen Agrarstädten wie Debrecen, Kekskemet und Nagykörös, meiner Heimatstadt. Diese Agrarstädte waren im verwüsteten Land zur Zeit der türkischen Besatzung die sicheren Häfen und die Hochburgen der reformierten Kirche. Und das blieb auch so bis in die jüngste Zeit. Erst die gewaltsame Kollektivierung der Landwirtschaft nach 1949 hat diese wohlhabende mittelbäuerliche Schicht zerschlagen. Damit wurde die wichtigste Basis der reformierten Kirche Ungarns getroffen. Dass. Calvin von dieser bäuerlicher, Schicht rezipiert wurde, entkräftet die Vorstellung, dass der Calvinismus eine Religion der städtisch-bürgerlichen und intellektuellen Schicht sei. Die ungarische Kirchengeschichte ist eine Korrektur dieses Vorurteils und auch gleichzeitig eine Ergänzung zum Calvin-Bild.

2. Die Ethisierung der Reformierten

in Ungarn, die die kultisch-sakrale Zentrierung ablöste, geht auf Calvins vielfache Impulse zurück: Die Ehre Gottes, seine geistige Gegenwart, der Vorrang der ganzen Bibel – auch des Alten Testamentes – als Quelle des Lebens, und das strikte Bilderverbot. Besonders das Letztgenannte springt ins Auge, denn aus den ungarischen reformierten Kirchen wurden nicht nur die Bilder, sondern auch die Kreuze verbannt. Die Folge davon war, dass rationale Züge die sogenannt abergläubisch-magischen Vorstellungen ablösten. Der Schriftsteller lllyés liefert eine anschauliche Schilderung der reformierten Mentalität im Unterschied zur katholischen, indem er die Häuser und Höfe seiner beiden Großeltern beschreibt, von denen die einen reformiert, und die anderen katholisch waren: „Über dem katholischen Himmel wohnen Engel, Heilige und Märtyrer, vor dem Hoftor hausen des Abends Gespenster, und im Ziehbrunnen wohnt der Wassermann; über dem reformierten Himmel waren praktisch nur Wolken, Regen oder Sonnenschein zu sehen, vor dem Hoftor wehte abends der Wind, und im Ziehbrunnen quakten nur die Frösche.“

Mit der Betonung der geistigen Gegenwart Gottes hat auch die Erkenntnis zu tun, dass es keine Hexen geben kann; denn da auch der Teufel keine körperliche Gestalt besitzt, könne er Frauen auch nicht „behexen“. Der von der Bildlosigkeit herrührende Rationalismus hat die Zweiteilung „profan – heilig“ überwunden. Die Hauswände wurden schmucklos weiß gestrichen, und an den Zimmerwänden hingen keine Bilder mit Kreuzigungsszenen und dem leidenden Christus, sondern bevorzugt wurden Millets “Ährenleserinnen“, van Goghs „Sämann“, oder die Leitgestalten des ungarischen Freiheitskampfes. Leben und Arbeit waren durchzogen von einer ethischen Grundhaltung, und ein asketisches Leben wurde nicht höher eingeschätzt als ein Leben, das von Arbeitsamkeit, Selbstdisziplin und Fleiß geprägt war. Die Ethisierung wurde dadurch bestärkt, dass das Hören des Wortes Gottes unmittelbar zu dessen Tun führte. Denn gemäß Calvin gehört es zum Kennzeichen der Kirche, dass das Wort Gottes nicht nur gepredigt, sondern dass es auch gehört wird. Die alttestamentliche Strenge, die den Reformierten nachgesagt wurde, auf der einen Seite wohl die Konsequenz aus der starken Betonung des Alten Testamentes, auf der anderen Seite führte sie durch die starke Ethisierung zu einem Defizit an Gefühl und einer gewissen Kälte und hatte auch eine liturgische Verarmung in den Gottesdiensten zur Folge.

3. Die ethische Durchdringung

des ganzen Lebens und der Vorrang des Wortes Gottes führten zu einer Forcierung der Bildung auf allen Ebenen. Die Agrarstädte unterstützten sowohl die Bildungseinrichtungen der Kirche als auch die Studenten, die an auswärtigen Universitäten studierten. Sie wollten damit in ihrem Bereich eine eigene weltliche intellektuelle Schicht heranziehen, die die Anliegen der Stadt und jene der Viehzüchter und Händler nach außen hin, d.h. den Gesprächspartnern und den türkischen Behörden gegenüber, sachgerecht und im Interesse der Stadt vertreten. Aber auch die einzelnen Bürger dieser Orte fühlten sich dem Bildungsethos verpflichtet, denn mit ihrem finanziellen Überschuss kauften sie nicht neue Ackerfelder, was zu jener Zeit als das Vernünftigste erschien, sondern sie finanzierten damit das Auslandsstudium ihrer Söhne.

Mit dem Aufkommen des Calvinismus änderte sich auch die Einstellung der Vertreter des Hochadels. Sie zeigten sich nicht mehr als die güterraffenden “warlords“, sondern als Männer, die sich für Kultur und Bildung verantwortlich fühlten. Ein hervorragendes Beispiel für diesen neuen Typ Adliger war Balthasar Batthyányi (1537-1590), dessen Stammschloss sich in Güssing befand, das – nach einem namhaften englischen Historiker – „ein calvinistisch-humanistisches Zentrum“ war. Batthyányi hatte Calvins Ideen während seiner „Kavalierstour“ in Paris kennen gelernt, gerade in jener Zeit, als die Hugenotten mit blutiger Gewalt verfolgt wurden. Batthyányi kehrte heim, erfüllt von dem Gedanken der Toleranz. In der Folge gewährte er auf seinen Gütern geflüchteten Hugenotten Zuflucht, er unterstützte viele Wissenschaftler, unter denen ebenfalls zahlreiche hugenottische Flüchtlinge waren. Ganz besonders förderte er die Naturwissenschaften und stand in enger Verbindung mit dem namhaften Botaniker Carolus Clusius, der ebenfalls hugenottischer Flüchtling war. Batthyányi war derjenige unter den Adligen in Ungarn, der als erster eine Bibliothek nicht als repräsentatives Schauobjekt, sondern aus Gründen des Wissens und aus Liebe zur Literatur und auch zur Theologie mit Hilfe eines weitverzweigten Bücheragentennetzes gesammelt hat. Er war auch ein bewusster Kunstsammler. In Güssing brachte er eine Buchdruckerei unter, deren Drucker, Johann Manlius, ebenfalls ein slowenisch-evangelischer Flüchtling war. Batthyányis Einsatz für humanistische Bildung hat später in vielen Schlössern des Hochadels Schule gemacht.

4. Calvin formte sein Kirchenbild

auch nach den Bedürfnissen der verfolgten und in der Zerstreuung lebenden Hugenottengemeinde. Die wichtigsten Modelle seines Kirchenbildes waren Autonomie und Selbständigkeit der einzelnen Gemeinden, Trennung von Kirche und Staat, kollegiale Kirchenleitung, schließlich Gebundenheit an das Wort Gottes und nicht an das „Sakrale“. Die Lage der Reformierten in Ungarn unter der türkischen Besatzung und Drangsalierung war ähnlich wie die der Hugenotten in Frankreich. In dieser Lage war die Autonomie der Gemeinden sehr wichtig, da allein sie das Überleben in der Not ermöglichte. Diese Autonomie stärkte das Selbstbewusstsein und weckte die Verantwortung. Als im 16. und 17. Jahrhundert die traditionelle bäuerliche Selbstverwaltung in eine Krise geriet, wurden die reformierten Gemeinden Stützen der Autonomie der Dorfbewohner wie ein bekannter ungarischer Historiker unserer Zeit feststellte –, auch wenn das häufig zu Auseinandersetzungen mit den Grundherren führte. Die Einführung der Presbyterien ab 1617 stärkte diese kirchliche Gemeindeautonomie, die auch den Agrarstädten selbst maßgeblich zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Selbständigkeit verhalf. Dieses Selbstbewusstsein bescherte den Reformierten den Beinamen „calvinistische Dickschädel“. Die Gemeindeautonomie und das Festhalten am Wort Gottes wie an einer mobilen Heimat, ohne Hierarchie und sakrale Räume, waren weitgehend die Gründe, warum die ungarischen Reformierten nicht das Schicksal anderer Kirchen unter der türkischen Herrschaft in Ungarn oder auf dem Balkan teilten, die ihrer Hierarchie, ihrer übergeordneten Organisationsstrukturen und ihrer sakralen Orte verlustig gingen und daher nicht mehr existenzfähig waren. Dieses starke Selbstbewusstsein und die ausgeprägte Autonomie der ungarischen Reformierten bergen allerdings auch die Gefahr, sich zu einer geschlossenen Gesellschaft zu entwickeln.

5. Die Erwählungslehre Calvins

bewirkte in Ungarn – ähnlich wie bei den französischen Hugenotten – Trost, ein Gefühl des Gehaltenwerdens und das Beharren im Glauben in den Notzeiten unter der türkischen Besatzung. Dieser Halt war durch das Bewusstsein gegeben, zu der Schar der Auserwählten zu gehören. Dieses Erwählungsbewusstsein fand seinen Anker in den Psalmliedern, die ebenfalls aus den hugenottischen Quellen nach Ungarn gekommen waren. Sie verbanden einerseits die persönliche Frömmigkeit mit dem gottesdienstlichen Leben, und andererseits wurden sie zum Liedgut bei der Arbeit und bei festlichen Anlässen. Die Psalmen erhielten einen stark identitätsstiftenden Charakter, besonders in den Notzeiten, und das nicht nur zur Zeit der türkischen Herrschaft, sondern auch viel später während der volksdemokratischen Zeit. Der 90. Psalm galt und gilt als die geheime Nationalhymne der Ungarn, und der 50. Psalm wurde von dem bekannten Komponisten Zoltán Kodály neu vertont, der ihm den Namen “Psalrnus Hungaricus“ gab. In diesem Psalm sind Zeilen zu finden wie „Gott, du beschützt die Gerechten, und du bewahrst die Frommen“, Zeilen, in denen Hoffnung und Zuversicht mitschwingen, nicht nur im 16. sondern auch im 20. Jahrhundert während der Zeit der antikirchlichen Kampagnen. Psalmen haben auch die ungarische Literatur inspiriert. Der Anteil der reformierten Schriftsteller liegt weit über dem Anteil der Reformierten unter der Bevölkerung. Dagegen sind unter den bildenden Künstlern die Reformierten unterrepräsentiert. Dies unterstreicht die reformierte Wortkultur im Unterschied zur Bildkultur. Die ungarische Nationalhymne selbst, deren Autor reformiert war, trägt stark die Spuren eines Erwählungsbewusstseins und des Beharrens in der Not – Gedanken, die in den Psalmen besonders unterstrichen werden. Diese Verflechtung birgt jedoch oft die Versuchung, dass das Auserwähltsein ethnische Züge erhält.

6. Calvins Hinweis

darauf, dass nicht Einzelpersonen, sondern nur die Stände einem Herrscher gegenüber, der das Recht auf freie Religionsausübung unterdrückt, Widerstand leisten können,

hat im Jahr 1606 den ungarische Landtag zum bewaffneten Widerstand unter dem Fürsten Stefan Bocskai, dem „neuen Mose“, gegen den habsburgischen König legitimiert.

Dieses Widerstandsrecht durchzog alle ungarischen und siebenbürgischen Freiheitsbewegungen, die sehr stark von reformierten Impulsen zeugten. Aber dieser Widerstandsgeist reichte weiter. 1849 dienten die kirchlichen Räume in Debrecen als provisorischer Tagungsort für den ungarischen Landtag, wo am 14. April 1849 die Dethronisation der Habsburger ausgesprochen wurde. Im Dezember 1944 wurde ebendort die provisorische Nationalversammlung konstituiert, da sich Budapest zu dieser Zeit noch in den Händen der deutschen Truppen befand. Eine Politisierung mit sozial kritischen Aspekten und mit einem nationalen Bewusstsein durchzog immer das ungarische Reformiertentum. Die großen Erntestreiks zu Beginn des 20. Jahrhunderts brachen in Ostungarn aus, wo die Bevölkerung zum größten Teil reformiert war, und eine der wichtigsten Zusammenkünfte der oppositionellen Intellektuellen fand 1943 in einem Bildungshaus der reformierten Kirche statt. Ein Militärhistoriker hat festgestellt, dass in der Endphase des Zweiten Weltkrieges die Mehrheit der reformierten militärischen Eliten für eine Kündigung des Militärbündnisses mit Hitlerdeutschland plädierte, wogegen die lutherischen für die Bündnistreue eintraten; die römisch-katholischen verteilten sich auf beide Lager.

Diese angeführten Beispiele bestätigen einerseits die Aussage des Dichters lllyés, dass Ungarn anders ausschauen würde ohne die Impulse Calvins, und anderseits zeigen sie den weiten Horizont seiner Theologie, der von jeglicher Engführung freimacht. Was nicht nur für Ungarn gilt.

In: Reformiertes Kirchenblatt 9-2009, S. 4-6.