Millionen Menschen sind auf der Flucht, suchen ein neues Zuhause, stranden oft irgendwo oder gehen elend zu Grunde. Haben sie zum Teil auf abenteuerlichen und gefährlichen Wegen das Gelobte Land Europa erreicht, werden sie nicht selten gleich verhaftet, eingesperrt und in ihr Herkunftsland zurückgeschoben, sofern das möglich ist.

Gerade evangelische Christen haben in der Vergangenheit Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gemacht.

Eine große Zahl an Protestanten musste aus ihrer Heimat fliehen, viele wurden vor die Wahl gestellt, entweder wieder katholisch zu werden oder ihre Heimat für immer zu verlassen.

Im doppelten Sinn von der Thematik betroffen war der Genfer Reformator Johannes Calvin, denn er erlitt selbst das Schicksal eines Flüchtlings und kümmerte sich um Flüchtlinge als Reformator in Genf.

Calvin musste als Ketzer zuerst aus Paris und bald schon aus seinem Heimatland Frankreich fliehen. Er fand vorübergehend eine Bleibe in Basel, dann für zwei Jahre in Genf, von dort wurde er wie ein Hund verjagt, wie Calvin selber schrieb. Danach ließ er sich in Straßburg nieder.

Schlussendlich kehrte Calvin auf Bitte des Rates nach Genf zurück. Aber selbst dort dauerte es noch 18 Jahre bis er das Bürgerrecht erhielt. Calvins Leben war also von Jugend an ein Flüchtlingsdasein.

Und so war Calvin doppelt motiviert, sich für andere Flüchtlinge einzusetzen. Einmal aufgrund seines eigenen Schicksals, des seiner Landsleute und Glaubensgenossen und aufgrund des biblischen Auftrages, der ihn verpflichtete, für Schwache, Fremde und Flüchtlinge zu sorgen.

Schon in Straßburg wurde Calvin mit der Aufgabe betraut, die französischen Flüchtlinge zu einer Kirche zu vereinigen. Er predigte und hielt theologische Vorlesungen in der französischen Flüchtlingsgemeinde. Die Stadt Genf, die Calvin mit seiner Lehre, seinem Glauben und seinem Handeln ein Vierteljahrhundert prägte, wurde zu einem Vorbild an Integration von Fremden, wobei sich Calvin mit seiner „Flüchtlingspolitik“ die Feindschaft vieler Altgenfer Bürger zuzog.

Nach Calvin sind alle Menschen gleich geschaffen und tragen füreinander Verantwortung. Das gilt ganz besonders gegenüber den Schwachen in der Gesellschaft. Dazu gehören auch Flüchtlinge und Migranten. Calvin sah, wodurch ein friedliches Zusammenleben in der Stadt gefährdet wurde: Erstens durch die Kluft von arm und reich, zweitens durch das Verhältnis der einheimischen Bevölkerung  zu der wachsenden Zahl von Flüchtlingen. Für Calvin stand außer Streit, dass sich die Stadt um die Fremden kümmern müsse und für ihren Unterhalt zu sorgen hätte. Die Mehrheit der Zugereisten bestand aus Glaubensflüchtlingen aus Frankreich. Es kamen aber auch Menschen aus anderen Ländern. Er soll darüber hinaus auch einem Türken und einem Juden geholfen haben.

In Genf selber nahm sich Calvin der zahllosen Flüchtlinge an – und nicht nur seiner französischen Landsleute. Er schlug dem Rat konkrete Maßnahmen vor, um Flüchtlingen zu helfen. So befürwortete Calvin die Einführung des Zinses bis 6 %, um unter anderem den Flüchtlingen zu einem Startkapital zu verhelfen, mit dessen Hilfe sie sich eine Existenz aufbauen konnten. Er selber beherbergte auch immer wieder Fremde.

Was für Calvin ein Gebot Gottes war, erwies sich für Genf als ausgesprochen vorteilhaft. Denn die Politik, vor allem Glaubensflüchtlinge anzusiedeln, führte Genf zu wirtschaftlicher Blüte.

Durch die Aufnahme zahlloser Flüchtlinge verdoppelte sich die Zahl der Bewohner innerhalb von zehn Jahren. Häuser mussten aufgestockt, Höfe zugebaut werden. Viele der Zuwanderer brachten ihre Fähigkeiten und Kenntnisse in die Gesellschaft ein. Das führte zu einem Aufschwung von Druckereien, dem Uhrmacherhandwerk, aber auch zu einer besseren Gesundheitsfürsorge durch die Ansiedlung von Ärzten. Und vor allem kamen vertriebene Prediger und Theologen in die Stadt. Calvin setzte sich dafür ein, dass Fremde eingebürgert wurden und damit auch das Wahlrecht erhielten. Und tatsächlich gelang es unter seinem Einfluss, eine große Zahl an Fremden in die Stadt zu integrieren.

Diese neue Blüte zog wiederum Studenten und Gelehrte aus halb Europa an. Es kamen Flüchtlinge und Anhänger Calvins aus Italien, den Niederlanden, England und Schottland.

Calvins Flüchtlingspolitik in Genf war vorbildhaft, und davon können auch wir lernen: Flüchtlinge nicht in erster Linie als Last und Sicherheitsrisiko zu sehen, sondern als Kinder Gottes, in denen uns Gott selber begegnet, in denen uns Gott einen Spiegel vorhält, – wie der Menschensohn im Matthäus-Evangelium feststellt: Ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen, oder ihr habt mich eben nicht aufgenommen.

Die Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) hat das Jahr 2010 zum Jahr der Migration erklärt. Die evangelischen Kirchen in Österreich haben sich dieser Initiative angeschlossen.

Das Jahr der Migration soll uns unsere Sinne schärfen für die Millionen Menschen, die unfreiwillig auf Wanderschaft sind, die aus Glaubensgründen, wegen ihrer politischen Tätigkeit, wegen Hunger und Krieg ihr Land verlassen mussten oder einfach auf der Suche sind nach einem besseren Leben, aber auch vor allem für die Menschen, die bei uns um Asyl ansuchen oder als Flüchtlinge bei uns stranden.

Auch wenn die Situation vor 500 Jahren in Genf kaum mit unserer Lage in Europa und den globalen Herausforderungen für die Kirchen heute vergleichbar ist, so hat uns Calvin mit seiner Theologie, seinem Glauben und seinem Handeln ein Beispiel gegeben, dem wir durchaus nacheifern können.

Thomas Hennefeld