Heute kann sich das niemand mehr vorstellen: Ganz Wien ging ins Burgtheater, um den »Wolterschrei« zu hören. Damals wurde die einzelne Schauspielerin oder der Schauspieler fast kultisch verehrt. Als berühmteste Tragödin des 19. Jahrhunderts spielte Charlotte Wolter im Lauf von 35 Jahren im Burgtheater 127 Rollen an 2103 Abenden. Und alles wartete auf den Schrei.

Jakob Minor versuchte das Phänomen zu beschreiben: »Wohl niemals werden wir das Parzenlied der Iphigenie, niemals auch die Sappho’sche Ode und das Gebet zu den erhabenen, heiligen Göttern in einem so seelenvollen und melodischen, die weiteste Skala von Tönen umfassenden Vortrag hören … Das Organ der Wolter war ein Mezzosopran von dunkler Färbung, wie Sammet oder wie Bronze, biegsam und scharf zugleich wie Stahl. Das Ergreifende lag wohl hauptsächlich in dem leisen Vibrieren ihres immer seelisch bewegten Tones, der in der Leidenschaft zu einem Umfange und zu einer Höhe anschwellen konnte, die mit der Macht des schrillsten Naturlautes ans Herz griffen. Das war der berühmte Wolterschrei – kein virtuoses Kunststück, sondern so notwendig wie der Blitz aus der dunklen Wolke.«

Aus Bildarchiv Austria, ÖNB

Von keiner Schauspielerin gibt es in den Sammlungen des Wien Museums mehr Porträts und Erinnerungsgegenstände als von ihr. 1700 Objekte, Alltagsgegenstände aus ihrem Leben, Lithografien, Kostümentwürfe, Gemälde, Aquarelle, Karikaturen, Zeitungsausschnitte, Totenmaske zeugen von ihrer großen Popularität. Josef Szekely wurde zu ihrem Leibfotografen und mit ihm und der Hilfe der Printmedien steigerte Charlotte Wolter noch ihre Popularität. Nicht nur auf der Bühne hatte man die Gelegenheit, ihre schauspielerischen Leistungen zu verfolgen, auch ihr Privatleben war neben öffentlichen Auftritten in vielen Zeitschriften und Tagesblättern Thema. Diese Selbstdarstellungen von Charlotte Wolter zeigen, dass bereits im 19. Jahrhundert, zur Zeit der Anfänge der Fotografie, die Inszenierungsformen der Kultfigur und des Starkörpers des 20. und 21.Jahrhunderts entwickelt wurden. 1867 konnte sie ihr schauspielerisches Können als Lady Macbeth (Inszenierung: Heinrich Laube, Kostüm und Maske von Hans Makart) besonders eindrücklich zeigen, als Höhepunkt der Inszenierung im Stil des historischen Realismus gilt ihre Rolle als Messalina 1874. Durch sie wurden auch zwei österreichische Dichter zu neuem Bühnenleben erweckt: Franz Grillparzer und Friedrich Hebbel.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 161-162.