Aus den meisten der bisher im Dialog veröffentlichten Biografien berühmter Evangelischer aus Österreich ist vielleicht spürbar geworden, was Kulturhistoriker bestätigen: In keiner anderen Epoche wurden Wissenschaft, Kunst und Kultur Österreichs so stark von Protestanten geprägt und getragen, wie in den letzten Jahrzehnten der sich auflösenden Donaumonarchie.

Diese zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Epoche des Umbruchs. Neben Adel und katholischer Kirche wurde das Bürgertum eine bestimmende Kraft. Um 1890, dem Geburtsjahr Egon Schieles, begannen auch Frauen politisch aktiv zu werden. Der „Allgemeine österreichische Frauenverein“ wurde gegründet, die Frauenmode vom Korsett befreit und radikal verändert. Eine treffende Symbolik. Die Kaffeehäuser Wiens wurden zum Mittelpunkt für Großbürger, Literaten, Künstler, Intellektuelle und revolutionäre Geister. Lenin und Trotzky verkehrten beispielsweise dort. Die Industrialisierung forderte bereits Tribut und Opfer. Wie Seismografen registrierten die Künstler und Intellektuellen die gewaltigen gesellschaftlichen Umwälzungen. Verfremdung, Abstrahierung, atonale Musik und Auflehnung waren ihre Antwort. Siegmund Freud und Ludwig Wittgenstein erdachten neue Hintergründe und Zusammenhänge.

In dieses kultursoziologische Biotop eines Umbruchs wurde Egon Leo Adolf Schiele am 12. Juni 1890 hineingeboren. Der Vater Adolf Eugen Schiele war Bahnhofsvorsteher in Tulln und entstammte ursprünglich einer norddeutschen Familie, in der sich viele Generationen von Pastoren, Beamten, Offizieren, Ärzten und Politikern nachweisen lassen. Die Mutter Marie, geborene Soukoup, kam aus dem südböhmischen Krumau, wo ihre wohlhabenden Vorfahren hauptsächlich im Gewerbe und in der Landwirtschaft tätig waren.

Mangelnde Schulerfolge verleideten dem jungen Schiele seine gesamte Gymnasialzeit. Er sah sich selbst als den „unpassenden Schüler aller Schulen“ und zog sich immer mehr zurück. Allein Religion und Kunst, insbesonders Zeichnen, interessierten ihn während der Schulzeit. Er zeichnete seit seiner frühesten Kindheit mit erstaunlich sicherem Strich und wollte unbedingt Künstler werden. Mit Unterstützung der Mutter bewarb er sich nach dem Tode des Vaters vorerst an der progressiven Wiener Kunstgewerbeschule. Diese verwies ihn jedoch wegen seines verblüffenden Talents an die Wiener Kunstakademie, wo er – noch keine 16 Jahre alt – die Aufnahmeprüfung mit Bravour bestand. Ein Jahr später hat sich auch ein damals unbekannter Postkartenmaler um diese Aufnahme beworben. Adolf Hitler wurde jedoch mangels Talent abgewiesen. Zwei Bewerber also: der eine ging in die Kulturgeschichte ein, der andere leider in die Weltgeschichte.

Schieles Interesses an Kunst und Religion während der Schulzeit manifestierte sich dann auch in seinem gewaltigen Frühwerk, wie etwa die Bilder „Kreuzigung“ (1907), „Vor Gott Vater kniender Jüngling“ (1908) oder „Mutter und Kind (Madonna)“ (1909), die er noch nicht 20-jährig schuf, belegen. Etwa 1907 lernte Schiele Gustav Klimt kennen, der zu einer Art Vaterfigur und Förderer Zeit seines Lebens werden sollte.

Egon Schiele lebte und malte intensiv. Fast rast- und ruhelos. In wenigen Jahren schuf er etwa 330 Ölgemälde und 2500 Zeichnungen. Mit einem Lieblingsmodell – Wally (Walburga) Neuzil – lebte Schiele seit 1911 in wilder Ehe, was ihn zu dieser Zeit jede Menge an Anfeindungen einbrachte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs traf ihn schwer. „Wir leben in der gewaltigsten Zeit, die die Welt je gesehen hat …“, schrieb Schiele an seine Schwester Gerti „… jeder muss sein Schicksal lebend oder sterbend ertragen – was vor 1914 war, gehört zu einer anderen Welt …“ In dieser Zeit verliebte sich Egon Schiele neu und trennte sich von seiner Lebensgefährtin Wally Neuzil. Am 17. Juni 1915, fast genau an seinem 25. Geburtstag, heiratete er in der evangelisch-lutherischen Stadtkirche in der Dorotheergasse Edith Harms, deren Vater ein aus Norddeutschland zugezogener Schlossermeister war. Vier Tage später wurde Egon Schiele zum Militärdienst eingezogen. Wegen seiner schwächlichen Konstitution jedoch nicht an die Front. 1918 war dann ein Schicksalsjahr. In vieler Hinsicht. Am 6. Februar starb Schieles väterlicher Freund Gustav Klimt und am 19. Oktober erkrankte seine im 6. Monat schwangere Frau an Spanischer Grippe. Mit etwa 20 Mio. Todesopfern fielen dieser Grippe 1918/1919 weltweit mehr Menschen zum Opfer als im ersten Weltkrieg. Am 28. Oktober starb Edith Schiele und wurde 3 Tage später beigesetzt. An diesem Tag, dem Reformationstag 1918 – vor 90 Jahren also – verstarb auch der ebenfalls an der Spanischen Grippe erkrankte Egon Schiele.

Schieles Leben endete für den Menschen und Künstler zu früh. Er wurde zu Lebzeiten angefeindet und als Künstler verkannt. Lediglich in den letzten Monaten seines Lebens konnte er eine aufkommende Anerkennung genießen. Er war ein Aufbegehrer, Grenzgänger und das Enfant terrible der österreichischen Künstlerszene seiner Zeit. Er wurde weltweit einer der bedeutendsten Vertreter des Expressionismus in der bildenden Kunst. Kaum 10 Jahre intensivsten Schaffens machten ihn zu einem rebellischen Neuerer in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Seine Porträts, Aktdarstellungen, Figurenbilder, aber auch die faszinierenden Landschaftsbilder drücken oft Leiden, Schmerz und Einsamkeit aus.

Egon Schiele ein unruhiges Geschöpf unruhiger Zeiten.

Ernst Burger
Aus: Dialog. Zeitschrift der Evangelischen Pfarrgemeinde A. und H.B. Graz-Heilandskirche, Ausgabe Dezember 2008)