Von Gustav REINGRABNER

Die Familie Wittgenstein nahm in verschiedener Weise am Leben des österreichischen Protestantismus Anteil. Sie mag auch als Beispiel für jene vielen Familien genannt werden, die aus dem Ausland kommend durch eine oder zwei Generationen wesentliche Impulse für die kleine evangelische Kirche in Österreich gegeben haben, dann aber – durch Absinken in die Unterschicht, durch Abwanderung oder durch katholische Kindererziehung – wieder aus dem Kreis der bedeutenden Mitglieder der evangelischen Öffentlichkeit ausschieden.

Die Wittgensteins gehören zu den Bahnbrechern des technisch-wirtschaftlichen Fortschritts in Österreich. Der Vater, Hermann Christian, war 1851 aus Leipzig nach Wien gekommen. Er hatte dort die vom Judentum zum reformierten Bekenntnis gekommene Franziska Figdor geheiratet. Die Kinder aus dieser Ehe waren dem Bekenntnis der Mutter entsprechend reformiert. In Wien gelang es Wittgenstein, durch Grundstücksgeschäfte – die „Kaiserstadt“ war eben auf dem Weg zur „Weltstadt“ – angesehen und vermögend zu werden. Und als er 1878 verstarb, war der Name der Familie in Wien wohl bekannt. Sein Haus aber war – nicht zuletzt wegen der Begabungen der Kinder – ein Zentrum kulturellen und geistigen Lebens. Die Begabungen lagen vor allem auf musikalischem Gebiet.

Das traf auch für den bedeutendsten Sohn, Carl, zu. Dieser, 1847 geboren, war ein außerordentlich qualitätvoller Violinspieler, der mit diesem Spiel sogar für eine knappe Zeit seines Lebens seinen Unterhalt bestritt. Weil ihm sein Vater das Studium an der Technischen Hochschule in Wien untersagt hatte, war er von zu Hause ausgerissen. Etwa zwei Jahre schlug er sich dann in den Vereinigten Staaten als Lehrer, Musiker, Barkeeper und Nachtwächter durch.
Als Zwanzigjähriger kam er wieder nach Wien zurück. Hier begann bald eine märchenhafte Karriere. Carl Wittgenstein war – auch ohne ordentliches Studium – in technischer Hinsicht sehr begabt und vermochte zudem seine technischen Fertigkeiten und das Verständnis für technische Vorgänge in der Wirtschaft, also in der Fertigung und im Vertrieb anzuwenden. Dadurch gelang es ihm mehrfach, Betriebe, die sich in Schwierigkeiten befanden, zu sanieren. Da er auch hart arbeitete, schloss sich ein Erfolg an den anderen an und Carl gelangte bald in Positionen, die ihm hervorragenden Einfluss in der österreichischen Stahlindustrie sicherten.
Natürlich war das nicht ohne Gegnerschaft möglich, weil sowohl Konkurrenten auf der Strecke blieben, wie auch die Behandlung der Arbeiter gar nicht immer dem entsprach, was Wittgenstein selbst auf Grund seiner Amerikaerfahrungen in dieser Hinsicht gewünscht hat. Der Stil der Wirtschaftsführung war damals in Österreich eben sehr anders als in Amerika.
Kirchlich engagierte er sich nicht besonders. Immerhin sorgte er dafür, dass die Arbeiter seiner Werke im Traisental eine Kirche bekamen. Knapp nach der Wende zum 20. Jahrhundert schenkte er auf Betreiben des damaligen Vikars von St. Pölten der Gemeinde bei St. Ägyd am Neuwald ein Grundstück zum Bau einer Kirche. Es ist auch anzunehmen, dass er den bekannten Architekten und Baukünstler Josef Hoffmann dazu bewogen hat, die Planung und Gestaltung des Kirchleins als „Gesamtkunstwerk“ im Stil der Zeit vorzunehmen.
Da Carls Gattin katholisch war, wurden seine Kinder auch im katholischen Bekenntnis erzogen, blieben freilich – wie das Beispiel seines philosophierenden Sohnes zeigt – nicht unbedingt fromme Katholiken.

Bei Carls Bruder Ludwig war das Verhältnis zu kirchlichen Arbeitsformen erheblich anders. Er war etwas älter als Carl, lebte aber – unter Fortführung bestimmter Geschäfte des Vaters – als „Privatier“ in Wien und verwendete einen Teil seiner Zeit zur Unterstützung kirchlicher Sozialarbeit. Dazu gehörte er der Gemeindevertretung der Wiener reformierten Gemeinde an.
Aus einer Darstellung der Geschichte des Wiener evangelischen Waisenversorgungsvereins kann man den Umfang und den Erfolg des Wittgenstein’schen Engagements erkennen: „Die größte Entfaltung erfuhr das Vereinswerk durch Ludwig Wittgenstein. Den Tiefstand der öffentlichen Armen- und Waisenfürsorge erkennend und mit knappen, bedeutungsvollen Sätzen immer wieder bloßstellend, ebenso aber auch von der Pflicht der Besitzenden zur Abhilfe durchdrungen und in seltener vorbildlicher Opferbereitschaft vorangehend, wollte er wenigstens auf dem Gebiet der evangelischen Waisenfürsorge alles tun, um dieser brennenden sozialen Not zu steuern. In den ersten zehn Jahren seiner Obmannschaft hat er den übernommenen Stand von 100 Zöglingen verdoppelt und die erforderlichen Mittel, soweit sie nicht schon durch Spenden und Vermächtnisse gesichert waren, selbst bereitgestellt. Überzeugt davon, dass ländliche Verhältnisse für das Gedeihen der heranwachsenden Jugend günstiger als städtische seien, errichtete er eigene Pflegeheime in Schladming und Goisern und brachte außerdem gegen 30 Pfleglinge bei evangelischen Pflegeeltern in Lahnsattel, Mitterbach, Weikersdorf, Rutzenmoos und in der Ramsau unter. Im Jahre 1907 ließ er das schöne, in die Landschaft gestimmte Waisenhaus in Goisern erbauen. Als im Weltkrieg die Not ins Ungemessene stieg, vermehrte er die Zahl der Pfleglinge bis zum Höchststand von 232. Mit dem Scharfblick des gewiegten Finanzmannes sah er als Kriegsfolge die Unbeständigkeit beweglicher Vermögenswerte voraus und trachtete, das Vermögen des Vereines so weit wie möglich in Haus- und Grundbesitz anzulegen. Dadurch gelang es ihm, einen Teil des Vereinsbesitzes vor gänzlicher Entwertung zu schützen.“
Dieser Vorausschau verdankt es der Wiener evangelische Waisenversorgungsverein, dass er – zum Unterschied von vielen ähnlichen Gründungen, die es im evangelischen Österreich gegen Ende der Monarchie gegeben hat, immer noch besteht und – in Anpassung an die veränderten Verhältnisse – wirken kann.
Als Wittgenstein als Achtzigjähriger im Jahre 1925 verstarb, war aber doch die „große“ Zeit dieser evangelischen Fürsorgeeinrichtung vorbei. Die Zeit begann sich auch sonst zu wandeln. Die Beerdigung, die der reformierte Superintendent D. Gustav Zwernemann vornahm, zeigte aber nicht nur die Wertschätzung, derer sich Ludwig Wittgenstein erfreute, sondern auch die Position seiner Familie.
So war sein Zeugnis nicht durch das Wort und die Bemühung um die Erhaltung unmittelbar kirchlicher Strukturen, sondern durch sein Bemühen um diakonische Aufgaben gekennzeichnet. Die Motive seines Handelns mögen von verschiedener Qualität gewesen sein, sicher ist es aber, dass er gesehen hat, in welchem Maße für die evangelische Kirche Liturgia und Diakonia, also kirchliche Verkündigung und karitatives Wirken zusammengehören.

 

Aus: Glaube und Heimat 1989, S.44-45.