Weltweit einer der bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts und Schöpfer der österreichischen Bundesverfassung, der sich auch mit dem Johannesevangelium auseinandersetzte.

Hans Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag als Sohn einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren, die 1883 nach Wien zog. Von seinen Eltern wurde er in die damals besten Schulen von Wien geschickt, in die Evangelische Volksschule und das Akademische Gymnasium im Wien. Das Studium an der Universität Wien beendete Kelsen 1906 mit der Promotion zum Doktor beider Rechte. Ein Jahr vorher war er aus eher pragmatischen Gründen zum römisch-katholischen Glauben übergetreten. 1911 habilitierte sich der überaus begabte Jurist dann an der Wiener Rechtsfakultät.

1912 verwirklichte Hans Kelsen seinen Entschluss, evangelisch zu werden. Er trat in die Evangelische Kirche A.B. ein. Im selben Jahr gründete mit seiner Frau Margarete eine Familie. Der Ehe entstammten zwei Töchter.

Gleich nach Ende seines Kriegsdienstes im Jahr 1918 beauftragte ihn Staatskanzler Karl Renner mit der Ausarbeitung einer definitiven Verfassung für die neu gegründete Republik Österreich. Das heute noch geltende Bundesverfassungsgesetz von 1920 trägt eindeutig die Handschrift Hans Kelsens. Die von ihm weiters entwickelte österreichische Verfassungsgerichtsbarkeit war damals richtungsweisend für ganz Europa.

1919 begann Kelsen seine Tätigkeit als Hochschullehrer in Wien und setzte diese dann 1930 in Köln fort. Wegen seiner jüdischen Abstammung musste er aber schon 1933 nach Genf und später nach Prag emigrieren und wanderte 1940 schließlich nach Amerika aus. Der mit 11 Ehrendoktoraten von Universitäten auf der ganzen Welt ausgezeichnete Hans Kelsen starb am 18. April 1973 in Berkeley, Kalifornien.

Sein internationaler Ruf ist vor allem mit der von ihm entwickelten Reinen Rechtslehre untrennbar verbunden, mit welcher er den „Rechtspositivismus“, eine völlig neue Grundlage schuf.

Kelsens zentrales Denken galt immer auch der Verteidigung der Freiheit – insbesonders der geistigen Freiheit – gegen jegliche Form der Unterdrückung, ein für Evangelische sehr vertrautes Thema und Anliegen. Sein Wirken weist noch einen „protestantischen“ Zug auf: Die immense Bedeutung, die er der Bildung beimaß, generell und speziell für die Jugend. Sein großes Bildungsideal war, Menschen zu kritikfähigen Verteidigern der Demokratie zu erziehen. Demokratisches Denken und Handeln war für ihn unabdingbare Voraussetzung für eine moderne Gesellschaft. Sie sind es auch für das Leben in der Evangelischen Kirche auf allen Ebenen.

Der für Christen wohl interessanteste, wenn auch weniger bekannte Aspekt in Kelsens Schriften, ist seine Auseinandersetzung mit dem Prozess Jesu. Es ist das Verdienst Manfried Welans, darauf neuerdings sehr ausführlich hinzuweisen. Auf die berühmte Frage von Pilatus im Johannesevangelium „Was ist Wahrheit?“ bezieht sich Hans Kelsen in zwei seiner wichtigen Abhandlungen „Wesen und Wert der Demokratie“ (1920) und „Was ist Gerechtigkeit“ (1953). Das Johannesevangelium, auf welches sich Hans Kelsen stützt, beschließt den eigentlichen Prozess damit, dass Pilatus Jesus ausliefert, damit er gekreuzigt würde. Er mag von Jesu Unschuld überzeugt gewesen sein, aber handelte nicht danach und lieferte Jesus aus. Wie Kelsen betonte, war Pilatus aber das zuständige Gericht und deshalb ist er für die Kreuzigung allein verantwortlich. Daher ist Pilatus auch zurecht im Credo erwähnt.

Kelsen schreibt über das 18. Kapitel des Johannesevangeliums: „Die schlichte, in ihrer Naivität lapidare Darstellung gehört zum Großartigsten, was die Weltliteratur hervorgebracht hat; und ohne es zu beabsichtigen, wächst sie zu einem tragischen Symbol des Relativismus und der Demokratie.“ Auf die Worte von Jesu „ … Jeder, der aus der Wahrheit ist, höret meine Stimme.“ fragt Pilatus „Was ist Wahrheit?“. Weil er es nicht weiß und Demokratie gewohnt ist, veranstaltet Pilatus eine Abstimmung. Im Angesicht des Kreuzes erhebt sich aber für Kelsen dahinter eine viel gewaltigere Frage: „Was ist Gerechtigkeit?“ und kommt zur Einsicht: Jesus hat die alttestamentarische Vergeltung durch das Prinzip der Liebe ersetzt und damit eine neue und wahre Gerechtigkeit verkündet. Dies ist aber nicht die Liebe der Menschen, sondern Gottes Liebe. Im Lichte der Unfassbarkeit Gottes ist diese Liebe „ein Geheimnis, eines der vielen Geheimnisse des Glaubens“ (Kelsen).

Erkenntnisse des bedeutendsten Juristen des 20. Jahrhunderts und evangelischen Christen, die gut in die Passionszeit passen.

 

Ernst Burger: Hans Kelsen
In: Dialog. Zeitschrift der Evang. Pfarrgemeinde Graz-Heilandskirche A.und H.B., Ausgabe März 2008