Der österreichische Protestantismus des Reformationsjahrhunderts konnte sich nur unter dem Schutz der Städte und adeligen Stände entfalten, waren doch die Rechtsgrundlagen seines Bestehens diesen Landständen als politische Privilegien gegeben. Und es ist wohl kein Zufall, daß mit der militärischen Niederlage der ständischen Politik in den Jahren 1618 bis 1620 endgültig die Möglichkeiten für ein weiteres Bestehen des Protestantismus genommen wurden. Aus diesem Grund finden sich aber unter den für Glaube und Kirche wichtigen Männern dieses Zeitraumes immer wieder Adelige, die als Teil ihrer öffentlichen Aufgaben sich auch den Schutz des evangelischen Kirchenwesens anbefohlen sein ließen.

Einer dieser Männer war Hans Wilhelm von Roggendorf, der seinen Wohnsitz in dem seither vollständig zerstörten Schloß in Sitzendorf nahe bei Eggenburg in Niederösterreich hatte. Er stammte aus einer angesehenen, vor allem im Waldviertel reich begüterten Familie, die vor allem in den letzten Jahren Kaiser MaximiIians I. großen Einfluß in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht gehabt hatte. Auch unter den Verteidigern Wiens im Türkenjahr 1529 fand sich ein Roggendorf an führender Stelle.

Wenn auch die große Bedeutung bereits ein wenig geschwunden war, so wurde doch auch Hans Wilhelm mit der Funktion des Landmarschalls betraut, also Leiter des landesfürstlichen Gerichtes und zugleich Vorsitzender des Landtages in Niederösterreich

Hans Wilhelm wurde am 4. Juli 1533 geboren, sein Vater starb früh, sodaß sein Bruder und er unter der Verantwortung eines Vormundes, vor allem aber der Mutter, die aus der Familie der Hohenberg stammte und den Sinn für Glaube und Kirche in den Kindern weckte, aufwuchsen. Die persönlichen Umstände seines Lebens sind rasch erzählt. Hans Wilhelm absolvierte die übliche Bildungsreise („KavaIierstour“) durch europäische Staaten, übernahm 1554 nach der Teilung der Güter den ihm zufallenden Teil, den er durch einigermaßen sorgsame Bewirtschaftung und Zukäufe zu verbessern suchte, und trat dann mit der steirischen Baronesse Margarete Herberstein in den Stand der Ehe. Die Frau verstarb früh, und nach Einhaltung des üblichen Trauerjahres vermählte sich Hans Wilhelm von Roggendorf neuerlich, und zwar mit der rheinischen Gräfin Anna von Wied-Runkel. Aus den beiden Ehen wurden ihm 19 (!) Kinder geschenkt, von denen freilich nur wenige den Vater überlebten. Hans Wilhelm starb während einer Kur in Baden bei Wien am 13. September 1590 und wurde am 20. Feber 1591 in der Kirche zu Sitzendorf beerdigt.

Seine Bedeutung für den Protestantismus bestand in dreifacher Richtung. Zunächst war er selbst von ehrlicher Treue zu seinem Bekenntnis getragen. Die ihm von der Mutter vermittelte Frömmigkeit – so sagt es sein Pfarrer in der Leichenpredigt – hat er sich durchaus bewahrt und durch persönliche Anteilnahme an Gottesdienst und Andacht unter Beweis gestellt. Sodann sorgte er für das Kirchenwesen in seinem Herrschaftsbereich. Durch einen Zufall ist der Berufungsbrief für einen von ihm angestellten Pfarrer erhalten geblieben, in dem das sichtbar wird. Das taten natürlich viele andere Adelige in ähnlicher Weise. So war der dritte Wirkungsbereich der wichtigste, wenngleich hiefür die persönliche Bindung an das Luthertum die Voraussetzung bildete: In seiner Tätigkeit als Landmarschall (seit 1565) und Mitglied des Herrenstandes trat er in vielfacher Weise für die Organisation und Förderung des Protestantismus im Lande unter der Enns ein.
Er ließ sich 1569 zu einem der vier Religionsdeputierten wählen, die im Auftrag des Herren- und des Ritterstandes für die Einrichtung des evangelischen Kirchenwesens auf Landesebene verantwortlich waren. Als solcher bemühte er sich um die Einrichtung der Landschaftsschule in Wien, um die Ausgestaltung des „Ministeriums“, also der Prediger, im Landhaus zu Wien; die Berufung des Landhauspredigers Mr. Josua Opitz dürfte unmittelbar von ihm veranlaßt gewesen sein. Auch bei der Kirchenvisitation des Jahres 1580 war der Roggendorfer persönlich und unmittelbar beteiligt. Schließlich trat er in den Jahren der Gegenreformation unter Rudolf II. immer wieder als Sprecher ständischer Delegationen dem Kaiser oder den Statthaltern gegenüber, wenn es um Fragen des Kirchenwesens und der Bewahrung der evangelischen Religion ging, auf.

Dabei stand er in den Reihen der strengen Lutheraner, also der nach Matthäus Flacius IIlyricus genannten Gruppierung innerhalb des Luthertums. Er wollte-das Erbe Luthers rein und unverfälscht bewahrt wissen. Das führte dazu, daß er nicht nur in Auseinandersetzungen mit den Katholiken verwickelt war, wobei seine strikte Ablehnung des Gregorianischen Kalenders vielleicht besonders erwähnt werden sollte, sondern auch dazu, daß er kompromißlos gegen die ihm als weichlich anmutende Richtung der „Accidentier“ innerhalb des Luthertums auftrat. Damit machte er es natürlich der evangelischen Partei im Lande nicht leichter. Man hat gemutmaßt, daß durch diesen innerprotestantischen Gegensatz die Einrichtung einer wirklichen evangelischen Landeskirche unmöglich gemacht und damit dem Durchdringen der Gegenreformation Tür und Tor geöffnet worden sei. Das mag zum Teil richtig sein, die tatsächlichen Probleme lagen jedoch sicher woanders, und zwar dort, wo der Landesfürst einfach nicht gewillt war, eine Verschiedenheit zwischen ihm und den Landesbewohnern im Blick auf das Bekenntnis zuzulassen. Das war bei Rudolf II. der Fall, und erst recht bei Ferdinand II. So wäre es wohl in jedem Fall zu einer Rekatholisierung Österreichs gekommen, zumal sich ja auch die Barone und Adeligen in Loyalität dem Landesfürsten beugte.

In einer Audienz sagte Hans Wilhelm von Roggendorf am 10. Mai 1578 zu Rudolf II.: „Sofern zuwider der stende habenden freyheiten und begnadigungen fürgegangen werden sollte, so muesen sy gleichwohl Ew. Khay. May. gewalt dulden, wissen ihme auch anderst nit zu thuen, als das sy es Gott, dem almechtigen, clagen und seinen gerechten urtl haimstellen und bevelhen.“

So sehr es dem Roggendorfer also darauf ankam, falsche Lehrer abzuschaffen, was ja auch zu den Aufgaben der Edelleute als christliche Obrigkeit gehörte, da sie damit „Christus, dem König der Ehren, die Tore weit und die Türen in der Welt hoch machen könnten“, wie er es einmal niedergeschrieben hat, so sehr er auch davon überzeugt war, daß lutherisches Bekenntnis und landständisch- hierarchische Gesellschaft einander entsprächen, so sehr sah er doch die Position des Landesfürsten als gottgegebene Obrigkeit für alle Untertanen und Stände an. Obwohl er mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten für die Ausbreitung des Protestantismus eintrat, wobei er nicht nur Anordnungen traf, sondern auch bereit war, Opfer zu bringen, beugte er sich doch in Loyalität dem Herrschaftsrecht des Landesherrn

Vielleicht war das die eine Grenze im Wesen des durch Mut und gute rechtliche und theologische Kenntnisse ausgezeichneten Roggendorfers; die andere dürfte wohl in seinem heftigen Temperament und einer von anderen nicht immer als angenehm empfundenen Starrheit und Enge gelegen haben. So war ihm auch ein Erfolg seiner Bemühungen auf weite Strecken versagt. Und als er starb, hatte er nicht nur den weitaus größeren Teil seiner Kinder zu beklagen gehabt, sondern mußte auch die schrittweise Zurückdrängung des Luthertums sehen. Zudem erwies es sich, daß in der Generation nach ihm Persönlichkeiten, die in ähnlicher Weise für das evangelische Bekenntnis öffentlich eintraten, weithin fehlten. Ob er die Tragik empfunden hat, ist nicht bekannt, sein Leichenprediger nennt sie und weist auf die persönliche Bindung an Christus hin, die es dem Verstorbenen ermöglicht hätte, auch im Leid die Hoffnung zu bewahren. Ob es nur die freundlichen Worte beim Begräbnis waren oder ob es der Wirklichkeit entsprach, wird sich nicht schlüssig klären lassen. Recht wäre es, wenn er sich auch in dieser Weise als Zeuge Jesu erwiesen hätte, der große und mächtige Herr Hans Wilhelm von Roggendorf auf Mollenburg und Sitzendorf.

Gustav Reingrabner: Eine Wolke von Zeugen (Aus: Glaube und Heimat 1981, S.32-33)