Einem kleinen »Fräulein aus Wien« widmete er das berühmteste Wiegenlied der Welt. Sie war die Tochter eines evangelischen Pfarrers in Wien, Berta Porubszky, die zu ihrer Tante nach Hamburg geschickt worden war, um bei Grädener musikalische Studien zu betreiben. Brahms öffnete laut Max Kalbeck sein »sonst so verschlossenes, gegen die Welt mit einem dreifachen Stachelpanzer bewehrtes Herz«. Berta sang mit ihrer jungen schönen Stimme bei einer Hamburger Alsterpartie Wiener Volkslieder, oberösterreichische »G’sangeln mit Juchezern« und Jodlern und das blieb Brahms im Gedächtnis. Als Fräulein Porubszky längst Frau Faber geworden war und ihren zweiten Knaben geboren hatte, schickte Brahms im Juli 1858 dem ihm innig verbundenen Ehepaar aus Wien das »Wiegenlied« »Zu allzeit fröhlichem Gebrauch«, das Motive des von Berta Porubzsky vorgesungenen Baumann’sehen Volkslieds aufnimmt.

Brahms kam 1862 zum ersten Mal nach Wien. Hier sollte er sein halbes Leben verbringen. Clara Schumann scheint ihm »die heilige Stadt der Musiker« empfohlen zu haben. Er spielte bei einer privaten Abendveranstaltung sein Quartett in g-Moll mit Josef Hellmesberger senior, worauf dieser begeistert ausrief: »Das ist der Erbe Beethovens.« Der Grund, warum Brahms schließlich für immer nach Wien kam, in Wien seine Heimat fand und selbst ein Zentrum der Musik und Gesellschaft Wiens wurde, war die große berufliche Enttäuschung, die Hamburg ihm beschert hatte. Brahms war zutiefst verletzt, weil es seinem Förderer und väterlichen Freund Theodor Avé-Lallemant 1862/63 nicht gelang, ihm den Direktorenposten der Philharmonischen Konzerte zu verschaffen, oder ihn wenigstens als Chormeister der Singakademie durchzusetzen. Julius Stockhausen wurde ihm vorgezogen. Erst 25 Jahre später, nach seinen großen Erfolgen in den Wiener Jahren, wurde ihm 1889 die Ehrenbürgerschaft von Hamburg verliehen.

Wien war im Begriff, sich zur kulturellen Hauptstadt Europas zu entwickeln. 1868 nahm Brahms das Angebot an, Chormeister der 1858 gegründeten Wiener Singakademie zu werden und übersiedelte nach Wien in die Singerstraße 7. Doch schon 1864 gab er dieses Amt wieder ab. Er konnte sich mit dem im Vergleich zu dem der Leitung des Wiener Singvereins unvorteilhafteren Posten nicht abfinden. Nach einigen Reisen ließ sich Brahms 1869 endgültig in Wien nieder.

»Beethoven kommt nach Wien als ein Suchender, Mozart mit dem sicheren Gefühl, hier sein Glück zu machen, mit dem festen Vorsatz, sich seine künstlerische Freiheit zu erkämpfen. Brahms hat einen Auftrag zu erfüllen … (Er) ist es, der die Wiener für die Schönheit altmeisterlicher Musik erzog. Ihm, dem Norddeutschen, dem Protestanten, den die Liebe zu Bach und seiner großartigen, aus dem Geiste der Reformation geborenen Tonwelt selbstverständliches musikalisches Erbgut war, fiel – welch schönes Mittleramt! – die Aufgabe zu, dem katholischen, von südlichem Lebensrhythmus getragenen Wien die Schatzkammer der Bach’sehen Oratorien, seiner Kantaten und Motetten aufzuschließen.« (Hermine Cloeter)

Als er 1869 wieder nach Wien kam, hatte er schon einen großen Erfolg im Gepäck: »Ein deutsches Requiem«, op. 45. Bis heute fragen sich in Wien so manche, was denn »Ein deutsches Requiem« mit einem Requiem zu tun habe. Gerade in seinem bekanntesten Werk jedoch zeigte sich Brahms als theologisch sattelfester Protestant, denn in ihm wird das tiefe Zentrum des evangelischen Glaubens in Bezug auf Sterben und Auferstehung deutlich. Es war der Punkt, um den auch Martin Luther gekämpft hat, gegen die Androhung des Gerichts und für einen gnädigen, gütigen Gott. Im »Deutschen Requiem« geht es Brahms nicht um das Heil der Toten wie in der lateinischen Totenmesse, in der den Trauernden zuerst der Zorn Gottes (dies irae), das Gericht, vor Augen geführt und dann die Erlösung verkündet wird. Anders bei dem protestantischen Werk Brahms: Der Trost für die trauernden Angehörigen – ein moderner Gedanke – steht im Mittelpunkt des Requiems. Musik soll trösten, soll Hilfe in der schweren Zeit des Abschieds sein. Das »Deutsche Requiem« ist keine Trauermusik, der zentrale Gedanke des Werkes nicht die ewige Ruhe der Toten, sondern der Trost derer, »die da Leid tragen«. Die Musik ist für die Lebenden da. Seine Textauswahl ist typisch evangelisch, nämlich biblisch: Schriftstellen des Alten und des Neuen Testaments und der Apokryphen. Die Auswahl der Texte zeugt von einer enormen Bibelkenntnis und von seiner persönlichen religiösen Überzeugung, die ihm oft in Abrede gestellt wurde.

Hymnisch urteilte der sonst äußerst kritische Musikkenner Eduard Hanslick: »Seit Bachs h-Moll-Messe und Beethovens Missa solemnis ist nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben Brahms deutsches Requiem Biografien zu stellen vermag.« Das Werk wurde sicherlich Johannes Brahms auch mit großer persönlicher Betroffenheit fertig komponiert, nachdem sein verehrter Freund Robert Schumann 1856 und seine Mutter 1865 gestorben waren. Brahms war bei der Uraufführung des Werkes im Leipziger Gewandhaus 1869 – in seiner heutigen Fassung – 36 Jahre alt.

1872 wurde er zum Dirigenten des Wiener Musikvereins und damit der Gesellschaftskonzerte berufen. Nun hatte er die künstlerische Freiheit, aber sein Programm stieß auf Widerspruch. Er bescherte den Wienerinnen und Wienern in 15 Konzerten neun Mal Werke von Johann Sebastian Bach. Die großen Kantaten und Motetten, die bis damals nie in Wien aufgeführt worden waren, erklangen in Wien als »frappante Abenteuer«. Auch viele Händel-Aufführungen brachte Brahms nach Wien. Er konnte einen großen Kreis von musikbegeisterten Fachleuten und Freunden um sich scharen: Ignaz Brüll, Josef Hellmesberger, Max Kalbeck, Viktor von Miller-Aichholz, Johann Strauss, die Familien Wittgenstein und Fellinger, vor allem das Freundestriumvirat mit Eduard Hanslick und Theodor Billroth.

Das Leben in Wien hat Brahms, den »Abseiter«, wie er sich selbst nannte, sicherlich beheimatet und gefördert. Schon 1862, als Brahms in Wien war, sagte er zu einem Freund in Göttingen: »Ja, so geht’s! Ich habe mich aufgemacht, ich wohne hier, zehn Schritte vom Prater, und kann meinen Wein trinken, wo ihn Beethoven getrunken hat.«

In der Wiener Zeit schrieb er seine großen Sinfonien. Mit der Komposition seiner ersten Sinfonie in c-Moll op. 68 begann Brahms 1862, er vollendete sie erst 1876. Die Uraufführung erfolgte in Karlsruhe, schon ein Jahr später, 1877, die der zweiten Sinfonie in D-Dur op. 73 in Wien. Auch die dritte Symphonie wurde 1883 in Wien uraufgeführt. Die vierte Sinfonie in e-Moll op. 98 entstand während der Sommeraufenthalte 1884 und 1885 in Mürzzuschlag in der Steiermark. Ihre Uraufführung fand in Meiningen statt. Die Veröffentlichung der »Ungarischen Tänze« wurde in Wien fast zum Skandal. Der Geiger Ede Reményi u. a. warf Brahms vor, sich seiner Musik bemächtigt zu haben.

Johannes Brahms 1889 (Foto, C. Brasch, Berlin)
Johannes Brahms 1889
(Foto, C. Brasch, Berlin)

Als Brahms in Wien lebte, tobte ein erbitterter Musikstreit zwischen den Vertretern der Neudeutschen Schule unter Liszt und Wagner und den Vertretern der »absoluten Musik«. Der Hort der »Konservativen« befand sich ihn Wien, deren Keimzelle waren Brahms als Musiker – eher unfreiwillig –, Hanslick als dessen journalistisches Sprachrohr und Billroth als musikalischer Freund. Und noch eine Person offenbarte sich als glühender Verehrer: Hans von Bülow. Er war ursprünglich überzeugter Wagnerianer gewesen und änderte seine Loyalität, als ihm Wagner seine Frau Cosima »ausgespannt« hatte. Bülows Haltung zu Brahms manifestierte sich vor allem in dem berühmt gewordenen Ausspruch, die erste Symphonie von Brahms sei die zehnte von Beethoven.

1896 wurde Brahms Mitglied der Pariser Akademie und schloss mit Max Reger Freundschaft. Eine Neubewertung seines Schaffens erfuhr Brahms später durch Arnold Schönberg: In dem Aufsatz »Brahms, the progressive« wies Schönberg nach, dass Brahms seine Werke aus kleinsten motivischen Keimzellen abgeleitet hatte. Zur Auflösung der Tonalität trug der lange Zeit als Klassizist unterschätzte Brahms durch die »zentripetale Harmonik« seines Spätwerks bei.

Er war mit Bad Ischl sehr verbunden. 1880 kam er erstmalig als Sommergast und verbrachte insgesamt zehn Sommer dort. Von der Schönheit der Natur inspiriert – er wandelte schon frühmorgens durch Wiesen und Wälder –, arbeitete er u.a. auch an den »Ungarischen Tänzen«. Im Sommer 1882 entstand das F-Dur-Quintett und der »Gesang der Parzen«. Auf der Leschetitzkyhöhe in Ahorn, wo er seinen Lieblingsplatz hatte, schuf er u. a. seine Lieder »Guten Abend, gut‘ Nacht« und »Feldeinsamkeit«. Von Bad Ischl aus besuchte Brahms oft seine alte Freundin Clara Schumann in Bad Aussee, und am Wolfgangsee traf er Billroth. Im Mai 1891 entstand auch das Ischler Testament in seinen Todesahnungen, die er aber noch bis 1897 überlebte.

Die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens war Brahms eine führende Persönlichkeit der internationalen Musikszene und wurde als Pianist, Dirigent und Komponist bewundert und verehrt. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrenmitglieclschaften wurden ihm verliehen. Sein Stammlokal war das »Gasthaus zum roten Igel«, Wildpretmarkt 1.

Eine von vielen Brahms-Anekdoten: Sein Verleger sagte zu Brahms: »Lieber Meister, warum schreiben Sie immer so traurige Sachen?« Brahms gelobte Besserung und nach einigen Wochen brachte er sein neuestes Werk: »Fröhlich steig ich aus dem Grabe«.

Johannes Brahms erhielt den ersten Musikunterricht. von seinem Vater. Auf seinen Kunstreisen lernte er Franz Liszt und Clara und Robert Schumann kennen. 1869 Übersiedelte er endgültig nach Wien. Er war Komponist, Pianist und Dirigent, dessen Kompositionen der Romantik zugeordnet werden. Brahms blieb unverheiratet. Er war evang. A. B. und gehörte der Wiener Lutherischen Gemeinde an. Der Brahmssaal – im Wiener Musikverein, in Erinnerung an Johannes Brahms und seine kammermusikalischen Werke – gilt nach der Renovierung 1993 als »der schönste, prunkvollste, repräsentativste Kammemusiksaal der Welt«. Von 1869 bis zu seinem Tod lebte Brahms in Wien.

Ehrengrab Zentralfriedhof, Gr 32A, Nr. 26 (Ilse Conrat)
Brahmsplatz im 4. Bezirk Brahmsdenkmal am Karlsplatz im 4. Bezirk

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 44–47.