Foto von Ulrich Schnarr, 1992.
Aus Bildarchiv Austria, ÖNB

Sie war die erste Architektin Österreichs. Ihr Zugang zum Leben und zur Architektur war von einem zutiefst sozialen Zugang bestimmt, der sich 1917 auf die tägliche harte Realität von Arbeiterinnen und Arbeitern im Rahmen eines Wettbewerbs für Arbeiterwohnungen bezog. International berühmt wurde ihre Innenarchitektur, angepasst an die Bedürfnisse von Hausarbeit entwickelte sie die »Frankfurter Küche«, mit der sie Architekturgeschichte schrieb. Selbst wenn Grete Schütte-Lihotzky seit ihrer evangelischen Taufe nie mehr protestantisch gefühlt oder gedacht oder geglaubt hätte, ihre Einbauküche ist der kondensierte Ausdruck protestantischer Kultur: menschenzentriert, sozial, funktional, emanzipatorisch, schnörkellos, vernünftig. Von ihrem Lehrer Oskar Strnad übernahm sie den Grundsatz, das Leben der Menschen, für die gebaut wird, kennenzulernen – ein Anspruch, den später feministische Architektinnen in den 1980er Jahren formuliert haben. Denn die architektonischen Konzeptionen und Raumaufteilungen – an den Bedürfnissen von Frauen und Kindern vorbei – unterstützten und konsolidierten patriarchale Machtverhältnisse in den Familien.

Als erste Frau in der k. k. Kunstgewerbeschule in Wien (heute Universität für angewandte Kunst Wien) – ursprünglich von Josef Hoffmann wegen ihres Geschlechts abgelehnt – schrieb sie sich 1915 unter Oskar Strnad und Heinrich Tessenow für das Studium ein und beendete es 1919. Sie bekam 1920 für ihr Projekt einer Kleingarten- und Siedlungsanlage am Wiener Schafberg den ersten Preis. Ab 1922 arbeitete sie als junge Architektin für die »Erste gemeinnützige Siedlungsgenossenschaft der Kriegsinvaliden Österreichs« und war gemeinsam mit Adolf Loos im Baubüro der Siedlung Friedensstadt am  Lainzer Tiergarten beschäftigt. Innerhalb des Vereins gründete sie eine Beratungsstelle für Innenarchitektur.

Die Siedlerbewegung in Wien der 1920er Jahre ging aus einer Bewegung ursprünglich »wilder Siedler« hervor, die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs – zumeist im Wienerwald – illegale Behausungen errichteten. Im September 1920 besetzten obdachlose Kriegsbeschädigte, die ihr Schicksal nach dem Krieg selbst in die Hände nahmen, das Gelände des Lainzer Tiergartens, das nach Kriegsende in das Vermögen des Kriegsbeschädigtenfonds übergegangen war, um von der Gemeinde die Bewilligung zur baulichen Erschließung des Geländes zu erhalten. Die Bilanz, die die Wiener Siedlungsgenossenschaft und ihre Architekten aufweisen konnten, ist einzigartig: Innerhalb weniger Jahre wurden in insgesamt fast 50 Siedlungsanlagen rund 15.000 Wohneinheiten (meist in Reihenhäusern) geschaffen, die bis heute große Teile der Stadtrandgebiete Wiens prägen. 1924 entwarf Schütte-Lihotzky einen Wohnblock mit 60 Wohnungen innerhalb eines großen Wohnkomplexes, an dem u.a. Loos, Hoffmann und Strnad mitgearbeitet haben – der Winarskyhof im 20. Bezirk.

Bereits in Wien begann Schütte-Lihotzky an der serienmäßigen Herstellung von Küchen zu arbeiten. Deshalb berief sie Ernst May  1926 in das Hochbauamt der Stadt  Frankfurt am Main, wo sie mit der Entwicklung von Einrichtungen für Kindergärten, Wäschereien, Wohnungen für alleinerziehende und berufstätige Frauen beauftragt wurde. Die Entwicklung der » Frankfurter Küche « war bis ins Detail durchdacht: Die Entscheidung fiel auf eine Arbeitsküche, die mit dem Vorzimmer und dem Wohnzimmer verbunden war. In die Kindergartenprojekte ließ sie Erkenntnisse der Montessori-Pädagogik mit einfließen.

Mit Ernst May, ihrem Mann, dem Architekten Wilhelm Schütte, den sie 1927 geheiratet hatte, und einer Gruppe von Architekten ging sie 1930 nach Moskau, um dort ganze Städte, gruppiert um neue Industriegebiete, zu bauen. Sie wurde im Rahmen dieser Arbeit Spezialistin für Kindergärten. Besichtigungs- und Vortragsreisen führten sie mit ihrem Mann nach Japan, China und in die Türkei, nach Griechenland, Frankreich, England und wieder in die Türkei, wo sie an der Akademie der Schönen Künste in Istanbul tätig war. 1940 schloss sie sich einer kommunistischen Widerstandsgruppe an, um gegen das NS-Regime zu kämpfen, reiste aus dem sicheren Exil nach Wien, wurde nach 25 Tagen verhaftet und zu 15 Jahren Kerker verurteilt. Das Nachkriegsösterreich versagte ihr die Anerkennung. Da sie seit 1939 Kommunistin war, bekam sie keine Aufträge – praktisch ein Berufsverbot. In dieser Zeit war sie jedoch international sehr engagiert. 1978 wird ihr Einsatz im Widerstand erstmals mit dem »Ehrenzeichen für Verdienste um die Befreiung Österreichs« gewürdigt. 1980 erhielt sie den Preis für Architektur der Stadt Wien für ihr Lebenswerk. Das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst lehnte sie zunächst wegen der Verleihung durch Bundespräsident Kurt Waldheim ab. Es wurde ihr am 14. April 1993 Kulturminister Rudolf Scholten überreicht.

»Oft fragen mich verschiedene Leute«, sagte Schütte-Lihotzky im hohen Alter, »warum ich aus dem sicheren Ausland nach Wien gefahren bin. Immer wieder empört mich diese Frage, immer wieder bin ich entsetzt über die mir so fremde Welt, in der diese Frage überhaupt eine Frage ist.«

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 134-135.