In den Matrikeln der Wiener Evangelischen Pfarrgemeinde A.B. steht es schwarz auf weiß: die Taufpatin von Marie Langs Tochter Lilith, die 1891 geboren und evangelisch getauft wurde, war die berühmte Frauenrechtlerin Rosa Mayreder. Sie waren Freundinnen, Rosa Mayreder, Auguste Fickert und Marie Lang. Die drei Frauen gestalteten als »radikaler Flügel« der österreichischen Frauenbewegung die Geschichte der Frauenemanzipation in Wien und Österreich – das Persönliche war für sie untrennbar mit dem Politischen verbunden. Marie Lang wurde Mitbegründerin und Vorstandsmitglied des »Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins«, Mitherausgeberin der Zeitung Dokumente der Frauen (1899-1903) und Gründerin der Wiener Settlementbewegung. Sie setzte sich mit einer großen Rednergabe in Fragen des Mutterschutzes, der rechtlichen Stellung des unehelichen Kindes, gegen den Lehrerinnen-Zölibat und die Reglementierung der Prostitution nachhaltig ein.

Der Kampf war nicht leicht, denn die Kraft des Frauenhasses war im Wien der Jahrhundertwende ungebrochen stark. Der Umbruch des sozialen Gefüges und der gesellschaftlich-kulturelle Wandel begünstigte die Frauenbewegung und verunsicherte ihre Gegner zutiefst. Bürgermeister Karl Lueger betrachtete die Frauenrechtlerinnen als übersexualisiert und als Bedrohung für Mann und Moral auf Grund ihres »übernatürlichen Hungers nach Sex und Macht«. Ihre Arbeit und Ziele wurden als »kulturfeindlich« und »lebensfeindlich« bezeichnet und sie selbst als »unglückselige, unbefriedigte hysterische Zwitter«. Von anderer Seite mussten sie sich »Geschlechtsneid« vorwerfen lassen und vom sarkastischen Karl Kraus, dass der Frauenprotest gegen die staatliche Duldung von Bordellen Frauen ja nur einen »abwegigen sexuellen Kitzel« bereite. Ihm sekundierte Otto Weininger mit seinem berüchtigten, frauenfeindlichen Bestseller »Geschlecht und Charakter« (1903), indem er behauptete, dass die Emanzipation die Domäne des Mannes sei.

Die Kraft, trotz dieser Verhöhnung durch prominente Männer an ihrer Vision von Frauenautonomie festzuhalten, hatten sie durch verschiedene günstige Entwicklungen behalten können: Der schon 1866 von Iduna Laube u. a. gegründete Wiener Frauen-Erwerb-Verein, der Frauen aus der unteren Mittelschicht eine Ausbildung ermöglichen sollte, die weitere Entwicklung im Bereich der höheren Bildung und die enorme Unterstützung von Männern, die die linksliberale, sozialreformerische Avantgarde des Wien der Jahrhundertwende waren. Der Physiker Ernst Mach, der Philosoph Friedrich Jodl, der Jurist Edmund Bernatzik, der Anatom Emil Zuckerkandl, der Zoologe Carl Brühl, der Klassizist Theodor Gomperz, der Physiker Ludwig Boltzmann, der Gynäkologe Hugo Klein u. a. unterstützten die Bewegung. Linksliberale Politiker wie Engelbert Pernerstorfer, Ferdinand Kronawetter und Julius Ofner brachten die Petitionen der Frauen im Parlament ein. Der Historiker Ludo Hartmann, mit Eduard Leisching in der Volksbildung verbunden, und die Vereinigung österreichischer Hochschuldozenten gründeten 1900 den Verein Athenäum für die Abhaltung von wissenschaftlichen Lehrkursen für Frauen und Mädchen. Der Volksbildungsverein entsprach dem Ideal der Frauen von der Einheit von Bildung und Individualität.

Auguste Fickert und Rosa Mayreder stammten aus Mittelstandsfamilien, Marie Lang aus wohlhabenden Verhältnissen. Mayreders Vater war evangelischer Gasthausbesitzer und Bierbrauer. Seinen Töchtern, die nach der Mutter katholisch wurden, ließ er dieselbe Erziehung angedeihen wie seinen evangelischen Söhnen. Marie Langs Vater war wie der von Mayreder ein Anhänger der Revolution 1848 und begeisterter Befürworter der bürgerlichen Freiheit. Fickerts Familie kam aus der bescheidenen unteren katholischen Mittelschicht – sie arbeitete als Lehrerin, trat jedoch später im Kampf mit der Schule aus der Kirche aus.

1898 wurde Marie Lang als einzige Vertreterin des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins zum internationalen Kongress nach London entsandt. Dort lernte sie – auch auf Anregung von Else Federn – die Settlementbewegung kennen, ein internationales Sozialprojekt, das Orte der Begegnung mit Verköstigung von Kindern und Weiterbildung von Müttern in Armenvierteln schuf. Ziel war nicht eine Almosenverteilung, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. 1901 wurde in Wien von 14 Frauen und zwei Männern der Verein Settlement gegründet, zuerst in einem kleinen einstöckigen Haus in der Friedrich-Kaiser-Gasse 51 angesiedelt, das vom Ottakringer Bierbrauer Kuffner zur Verfügung gestellt und nach Entwürfen von Josef Hoffmann und Kolo Moser eingerichtet wurde. Bis in die dreißiger Jahre war das »Ottakringer Settlement« eng mit der internationalen Settlementbewegung verbunden. Eine weitere Initiative war der Verein Kunstschule für Frauen und Mädchen, 1897 von Rosa Mayreder, Olga Prager und Karl Federn gegründet. Die Landschaftsmalerin Tina Blau war eine der beiden Lehrerinnen.

Marie Lang wurde nicht nur zu einem der Zentren der Frauenbewegung, sondern auch der Theosophie. Ihr Feminismus war spirituell. Zu ihren Gästen zählten u.a. Rosa Mayreder, Schwager Julius, Hugo Wolf, Rudolf Steiner, Franz Hartmann und Graf Carl zu Leinigen-Billingsheim. »Für Lang war der Feminismus eng verknüpft mit spiritueller und sinnlicher Erfüllung. Ihr Motiv, sich der Frauenbewegung anzuschließen, war eine Erfahrung, die einer religiösen Bekehrung gleichkam und in deren Mittelpunkt eine bewunderte Führerin – Auguste Fickert – stand.« (H. Anderson) So gab es bei Lang einen Unterschied zu Fickerts und Mayreders Bewusstsein von Machtstrukturen. Deren Vision war die Abschaffung der kapitalistischen Ausbeutung und der Ausbeutung der Frauen durch Männer, die sowohl als Fragen der Ökonomie als auch der Psychologie gedeutet wurden. Lang glaubte, dass der Feminismus durch die Kritik des herrschenden sexuellen Sittenkodex und die Aufwertung der Mutterschaft die Natur in ihrer mythischen und mystischen Herrlichkeit wiederherstellen könnte.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 98–99.