Reinhard Federmann schrieb mit Milo Dor ganze Bücher im Kaffeehaus, das erste gemeinsame Buch im Café »Eisenbahnerheim« am Margaretengürtel. Es war ein Thriller und hieß »Internationale Zone«. Mit dem Schreiben von Krimis versuchten sie sich über Wasser zu halten in dem Niemandsland, das Österreich für Federmann geworden war. Beide stammten aus typisch bürgerlichen Familien und standen nach 1945 – der eine als heimatlos vertriebener Flüchtling (Dor) und der andere als eine Art Waisenkind (Federmann) – vor dem Nichts. Begonnen hat die Zusammenarbeit des gebürtigen Serben mit kommunistischem Parteibuch Milo Dor und Reinhard Federmann, dem freiheitlich-sozialistischen Protestanten – mit jüdischem Großvater väterlicherseits – mit einem Nachruf. Es war der Nachruf auf einen Grafiker und Maler mit Namen Wiener, der Selbstmord begangen hatte, um nicht zu verhungern. Die Empörung der beiden richtete sich gegen den Mangel an Anerkennung künstlerischer Arbeit in Österreich und die Unterstützung von Künstlern. Da der Aufschrei ohne Echo blieb, entschlossen sie sich, zuerst einmal Kriminalromane zu schreiben, um Geld zu verdienen. Das Geheimnis der Zusammenarbeit war, dass sich beide als »deklassierte Außenseiter der Gesellschaft« (Milo Dor) empfanden. Das Buch »Das Gesicht unseres Jahrhunderts«, auch eine Art Krimi, avancierte zum Nachschlagewerk und wurde 25.000-mal verkauft.

Für Milo Dor war Federmann, mit dem er 15 Jahre intensiv zusammenarbeitete, ein unerschütterlicher Optimist im Angesicht der grenzenlosen Fremdheit, die er in seiner eigenen Heimat Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg empfinden musste. Dieses Sich-fremd-Fühlen war auch Federmanns Lebensgefühl bis zum Schluss, unterstützt und genährt durch selbst erlebte schreckliche Kriegsgräuel, für die es nach dem Krieg keine solidarisierende Sprache gab, sondern die Vertuschung der Ereignisse durch den österreichischen Staat und große Teile seiner Bevölkerung in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik.

Mit 19 Jahren wurde er als Funker an die Ostfront geschickt, bekam für eine unfreiwillige Heldentat das Eiserne Kreuz zweiter Klasse, wurde verwundet und kam in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1945 entlassen wurde. Seine Mutter war, als er heimkam, gestorben, sein verzweifelter Vater war in die winterliche Donau gesprungen, der älteste Bruder verwundet, der jüngste beging Selbstmord. Federmann wollte überleben und begann zu schreiben. Der erste Roman »Der Weltbürger im Niemandsland« fand keinen Verleger – Otto Basil druckte einen Auszug in der Zeitschrift »Plan« ab. Ein Publikum, das Federmann gerne gelesen hätte, gab es nicht, denn alle suchten eher ihr Heil bei Sisi-Filmen als in der Aufarbeitung der Vergangenheit. Diejenigen, die den Schrecken erlebt hatten, blieben ein zweites Mal alleine: Als Schriftsteller war mit den Kriegserlebnissen kein Staat zu machen. Sein zweiter Roman »Chronik einer Nacht« wurde immerhin von Peter Strasser, der selbst aus der Emigration heimgekehrt war, in der Arbeiter-Zeitung abgedruckt. Er schrieb: »Wir haben nur ein Phantom erschlagen. Der Feind lebt lustig weiter. Er zündelt an allen Ecken. Ich glaube nicht mehr an die Ideale von vorgestern. Jeder steht für sich allein … Du warst ausgelöscht, als hätte es dich nie gegeben.«

Den Titel seines dritten Romans, »Das Himmelreich der Lügner«, lehnte Federmann an das Trotzki-Zitat »Unsere Zeit ist vor allem eine Zeit der Lüge« an. Ergreifende Passagen über die jüngste Vergangenheit und die Unfähigkeit Österreichs, über das zu sprechen, was getan wurde, brachten es mit sich, dass sich neuerlich kein österreichischer Verlag fand, Federmann zu publizieren. Federmann war inzwischen bei der Gruppe 47 aufgetreten, und so erschien das Buch schließlich in einem deutschen Verlag. Milo Dor meinte zur Identität Federmanns: »… Reinhard war Optimist. Und er war ungeheuer fleißig, was vielleicht mit dem Erbe seiner deutschen protestantischen Vorfahren mütterlicherseits zusammenhing. Aber er war andererseits durch seinen Vater ein Jude. Wenn die Verzweiflung darüber, in einer zuweilen feindlichen Welt zu leben, die Skepsis dieser Welt gegenüber und die Selbstironie, die einem hilft, sich in einer ausweglosen Situation zu behaupten, Grundeigenschaften der europäischen Juden sind, dann war er ein Jude, und das machte ihn zu meinem Freund oder eigentlich zu meinem Bruder.«

Die österreichischen Sozialisten haben Federmann nach dem Krieg nicht geholfen, sich als Schriftsteller zu Hause zu fühlen, da sie eine konservative Kulturpolitik betrieben – das bedeutete eine weitere Heimatlosigkeit für Federmann. Er arbeitete in Deutschland, kehrte Anfang der siebziger Jahre, als sich Wien etwas öffnete, zurück und versuchte erneut, als freier Schriftsteller Fuß zu fassen. Er gründete die Literaturzeitschrift Die Pestsäule, die er bis zu seinem frühen Tod führte. Unbezahlte Positionen wurden ihm angeboren: Sprecher der Schriftsteller und Künstler in der Hörer- und Seher-Vertretung beim Österreichischen Rundfunk und Fernsehen und Generalsekretär des Österreichischen P.E.N.-Clubs, dessen internationalen Kongress er noch 1975 in Wien kurz vor seinem Tod organisierte. »Ich glaube an den Tod. Genauso, wie der Christ sein ganzes Leben auf Gott ausrichtet, so will ich mich bemühen, mich auf meine letzte Minute auszurichten.« Diese Einstellung begründete er mit dem Hinweis, »niemals weniger an ein höheres Wesen gedacht zu haben, als in dem Augenblick, als mir der Tod vor Augen stand.« Sein schriftstellerisches Credo lautete: »Die letzte Instanz ist die Wirklichkeit.«

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 61–63