Von Gustav REINGRABNER

Der ungarische Protestantismus konnte nicht nur eine ununterbrochene Geschichte aufweisen, sondern sich auch ein Traditionsbewusstsein bewahren, das noch lange nach der Toleranzzeit ungebrochen geblieben ist. Dazu gehörte nicht nur die Erinnerung an die in der Reformationszeit und in den Jahrzehnten der Gegenreformation von den verschiedenen Landtagen und Königen gewährten Privilegien, sondern auch die Verbindung von Gesellschaft und Kirche. So waren es vielfach Adelige, die nicht nur als Protektoren der Kirchengemeinde auftraten sondern auch – nach der Erarbeitung der Kirchenverfassungen in den Jahren nach 1791 – in den Gemeinden, Senioraten und Distrikten als „Inspektoren“ (bei den Evangelischen, wie man dort die Lutheraner nannte) und als „Curatoren“ (wie es bei den Reformierten hieß) tätig waren.

Die Institution der Inspektoren wurde durch die ungarische Kirchenverfassung von 1891/93 noch ausgebaut und erhielt sich in den heutigen burgenländischen Senioraten und Pfarrgemeinden bis zum Jahr 1921, also der Erstreckung der österreichischen Kirchenverfassung. Die Inspektoren mussten nicht in der Gemeinde wohnen, sondern sollten ehrbare und angesehene, dabei im Glauben stehende und erprobte Protestanten sein, die auch im weltlichen Leben, also in der Gesellschaft etwas darstellten. In der Kirche, in der der Einfluss der zentralen Institutionen eher gering war, kam ihnen als Vermittler zwischen den Gemeindegliedern, die durch die Presbyter vertreten wurden, und den Pfarrern eine besondere Bedeutung zu. Ähnliches ist auch für die Senioratsinspektoren zu sagen, die immer wieder in den Gemeinden, aber auch zwischen den Gemeinden zu vermitteln hatten. Angesichts der verschiedenen Bemühungen, welche Filialen zu selbständigen Muttergemeinden werden ließen, den damit verbundenen finanziellen Problemen und den Streitigkeiten um die Pfarrerbesoldung war das eine nicht endende Aufgabe. So wählte man in der Regel Männer mit besonderer Autorität, aber auch besonderen Kenntnissen, und zwar solchen entweder im Bereich der Wirtschaft oder des Rechtes. Und es war kein Zufall, dass nicht wenige von ihnen dem Adelsstand angehörten. Gerade unter ihnen kam es dazu, dass immer wieder Angehörige ein und derselben Familie in entsprechende Ämter gewählt wurden. Zudem standen Inspektoren und bestimmte Pfarrerfamilien in einem engen verwandtschaftlichen Verhältnis.

Einer dieser Inspektoren war Stephan von Hrabovszky. Er entstammte einer Familie, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus dem Trentschiner Komitat (heute Slowakei) nach Westungarn gekommen war. Seine Vorfahren waren Pfarrer, Superintendenten, aber auch Juristen und als solche Inspektoren der Kirche.

Stephan selbst wurde im Jahr 1852 geboren und durchlief eine Ausbildung im Bereich des Rechtes, die ihn dazu befähigte, als Advokat und königlicher Notar tätig zu sein. Sein Sitz war Oberwart, wo sich ein Stuhlrichteramt befunden hat. Dort fand am 10. Oktober 1887 jene außerordentliche Senioratsversammlung des oberen Eisenburger Seniorats statt, die ihn zum Inspektor wählte. Nach dem Brauch der Zeit hielt er anlässlich seiner dort gleich erfolgenden Einführung in dieses Amt eine schwungvolle und kämpferische Rede, in der er unter anderem sagte: „Die glaubenslose Richtung, welche immer weiter um sich greift, ist wohl dazu angetan, die Kultur und Zivilisation dadurch, dass sie den selbstsüchtigen, entfesselten Leidenschaften Tür und Tor öffnet, früher oder später zu gefährden, weil sie nicht imstande ist, den zerstörerischen Wirkungen derselben eine Autorität entgegen-zusetzen.“ Eine solche Autorität sei eben der Glaube, der in der – evangelischen – Kirche seine Heimat habe. Aufgabe der Kirche sei es daher, der Welt diesen Halt zu geben und zu vermitteln.

Hrabovszky ist ein Vertreter jenes ungarischen Protestantismus, der in Anlehnung an den Staat und in einem deutlichen Patriotismus die Aufgabe der Kirche in der Öffentlichkeit definierte. Das war nicht ein demütiges Dienen, sondern ein durchaus vom Verlangen und der Forderung getragenes Verhalten, das gleichwohl um die Verantwortung wusste. Hrabovszky selbst hat immer wieder gezeigt, dass er sich der Verpflichtungen des Glaubens bewusste war. Als im Jahr 1912 seines fünfundzwanzigjährigen Dienstes als Senioratsinspektor gedacht wurde, wünschte er eine Sammlung, in der von den Gemeinden immerhin 1.440 Kronen gespendet wurden (der Geldanteil des Jahresgehalts eines Pfarrers lag damals bei etwa 600 bis 800 Kronen). Hrabovszky selbst hat den gesammelten Betrag auf 3.000 Kronen aus eigenen Mitteln ergänzt und als Stiftung für Waisen im Seniorat und seinen Gemeinden gewidmet.

Dieses eine Beispiel soll für viele stehen, die zeigen, dass bis zum persönlichen Opfer jene Haltung gezeigt wurde, die man meinte, seinem evangelischen Glauben schuldig zu sein.

In der Tat war es ja auch so, dass damals die öffentliche Stellung der Kirche beachtlich gewesen ist. Sie, vertreten vor allem durch ihre Pfarrer, bestimmte weithin das sittliche Verhalten und den öffentlichen Anstand und erwies sich als Richter über die öffentliche Meinung. Dabei stand die Forderung Gottes im Vordergrund, nicht so sehr das Evangelium von der annehmenden Gnade.

Das galt auch für die Haltung anderen Konfessionen gegenüber, für die Wünsche im Blick auf die Erziehung, wobei zu beachten ist, dass das Schulwesen trotz der im ungarischen Kulturkampf vom Staat her gesetzten Maßnahmen immer noch in einem ganz hohen Maße Angelegenheit der Kirche gewesen ist.

Die Tätigkeit des Senioratskurators erschöpfte sich aber in solchen Aktionen und Auftritten. Von Hrabovszky wurde am Ende seiner Tätigkeit festgestellt: „Seine große Rechtskenntnis, seine rasche Denk- und Handlungsweise, seine treukirchliche Gesinnung und seine ganz unabhängige gesellschaftliche Stellung prädestinierte ihn zum Führen.“ Und dieses Wort hatte damals, im Sommer 1918, noch keinen negativen Beigeschmack.

Es wurde gesprochen, als Hrabovszky auf der am 3. Juli 1918 in Oberschützen tagenden Senioratsversammlung sein Amt endgültig in jüngere Hände legte. Es war neben dem Alter doch auch seine Einsicht, dass die Probleme, die sich aus dem Krieg für die Gemeinden ergaben – das bittere Ende war damals noch keineswegs für alle einsichtig – und die ja nicht nur in der Hungersnot bestanden, sondern – nach Aussagen anderer Männer der Kirche – vor allem in einem Verkommen von Sitte und Anstand, von Treue und Gerechtigkeit zu suchen waren, von ihm nicht mehr gemeistert werden könnten.

So hat er die Folgen des Krieges, die Zertrennung der westungarischen Seniorate, den Anfall Oberwarts an Österreich, die völlige Veränderung der öffentlichen Stellung des burgenländischen Luthertums, aber auch die wirtschaftlichen Probleme der Gemeinden, die durch die Inflation so gut wie alle ihre Ersparnisse verloren, nicht mehr in seinem Amt erleben müssen. Sogar der Titel, den man ihm noch im Jahre 1918 verliehen hatte („Ehren-Senioratskircheninspektor“) war durch die Ausdehnung der Bestimmungen der österreichischen Kirchenverfassung auf die burgenländischen Gemeinden inhaltslos geworden – es gab eine entsprechende Funktion nicht mehr.

Als er am 2. Jänner 1932 verstarb, erinnerten sich noch manche an ihn und stellten den einen oder anderen Nachruf unter das Motto: „Seinesgleichen sehen wir nicht mehr!“ Das war in mehrfacher Hinsicht richtig. Es galt seiner Person, es galt aber auch seinen Ansichten – die evangelischen Gemeinden im Burgenland hatten sich neu einzurichten, was ihnen nicht leichtgefallen ist. Das Evangelium erwies sich aber doch stärker als die Traditionen, deren eine Stephan von Hrabovszky verkörpert hat.

 

Aus: Glaube und Heimat 1999, S. 39-41.