1. National

Schweiz

Zwingli war überzeugt, dass die Hinwendung zum Evangelium Bedingung für das sittliche und politische Erstarken der Eidgenossenschaft sei und hat sich daher zeitlebens bemüht, die Reformation auch außerhalb Zürichs voranzutreiben. Daher ist sein Einfluss bei der Durchsetzung der kirchlichen Erneuerung an vielen Schweizer Orten spürbar. Hier sei nur das mächtige Bern erwähnt.

Auch die von Zwingli initiierte und von Zürich betriebene Bündnispolitik – d.h. der Versuch einer großangelegten Koalition gegen die Macht des am Katholizismus festhaltenden Hauses Habsburg – ist in Zusammenhang eines sowohl pastoralen wie auch patriotischen Anliegens zu sehen. Die Schlacht bei Kappel hat der Stadt Zürich allerdings eine schwere Niederlage gebracht und Zwingli das Leben gekostet. Es wäre aber verfehlt anzunehmen, dass die Bürger der Stadt deshalb der Reformation den Rücken kehrten. Wenn auch einige harte Jahre folgten, so ist Zwinglis Erbe in Zürich doch lebendig geblieben. Das ist in besonderem Maße dem Wirken Heinrich Bullingers zu verdanken, der zwar nicht den prophetischen Eifer Zwinglis hatte, dessen aufs Religiöse konzentrierte Predigt der Reformation aber leichter den Weg zu ebnen vermochte. Dass dieser Mann, der in regen Briefwechsel mit ganz Europa stand, den von Zwingli übernommenen Begriff des Bundes Gottes mit den Menschen ins Zentrum rückt, ist für die reformierte Theologie von entscheidender Bedeutung.

Zwinglis Erbe lebte auch im Wirken des Straßburger Reformators Martin Bucer weiter, der Zwingli in vielem verwandt, in manchem deutlich von ihm beeinflusst war, z.B. was die Bedeutung einer umfassenden Regelung des Gemeindelebens betrifft, die Betonung, dass das Reich Gottes sich nicht auf die Innerlichkeit beschränkt oder die Deutung der Abendmahlsworte.

Auf dem Wege über Bucer und Straßburg hat Johannes Calvin vielleicht früher und mehr von zwinglischem Gedankengut aufgenommen, als ihm selbst bewusst war. Der Reformator, dem in Genf übrigens der eindeutig von Zwingli abhängige Wilhelm Farcel das Terrain vorbereitet hatte, vertrat an entscheidenden Stellen (Gesetzeslehre, Rechtfertigung und Heiligung, Gnade und Glaube … ) typisch zwinglische Ansichten und hat diese einem neuen, breiteren Wirkungsfeld zugeführt.

Niederlande

Frühe Kontakte mit Zwingli haben hier den Boden für den Einfluss, den Bullinger und Calvin bei der Entwicklung der Reformation in den Niederlanden haben sollten, vorbereitet. Insbesondere wurden die patriotische Note, die Zwinglis Religiosität innewohnte, sowie sein Kampf gegen Habsburg in einer gesamteuropäischen Perspektive aufgenommen.

Frankreich

Theologisch hat auf die Dauer der Einfluss Calvins den Zwinglis verdrängt. „Hingegen liegt die Vermutung nahe, dass in den Bedrängnissen und Aufständen der Hugenotten das Vorbild des Reformators, der zur Verteidigung wehrloser Glaubensgenossen zum Schwert griff, wirksam war. Das Schrifttum der Hugenotten und ihre Entwicklung des Widerstandsrechts war vom Prophetentum Zwinglis inspiriert.“ (Locher, Zwinglische Reformation, Seite 646.)

England und Schottland

Trotz der bedeutenden Einflüsse aus Wittenberg und aus Genf (John Knox hatte dort studiert) gibt es deutliche Hinweise auf Beziehungen zu Zwingli. Für die schottische Geschichte wird bedeutsam, dass dort die „covenants“ seit jeher, ähnlich wie die eidgenössischen Bünde, zugleich religiösen und politischen Charakter hatten. Zusammenfassend ist festzustellen, dass auch dort, wo der reformierte Protestantismus sich nicht ausdrücklich auf Zwingli beruft, dessen Wirken für das Entstehen des gesamten Erscheinungsbildes mit von entscheidender Bedeutung war. Das ist auch für die oben nicht erwähnten osteuropäischen Länder, insbesondere Ungarn, gültig.

Österreich
Zwingli und Gaismair

Zwingli hatte den Anliegen der Bauern gegenüber eine verständnisvolle Haltung eingenommen, er hatte erklärt, dass eine Obrigkeit, die ihren Aufgaben nicht nachkommt, Unruhen provoziert; und er war der Befürworter eines bedingten Widerstandsrecht. Diese Gründe mögen bei dem Entschluss des Tiroler Bauernführers Michael Gaismair, mit Zwingli Kontakt aufzunehmen, eine Rolle gespielt haben. Gaismair hatte nach einem gescheiterten Versuch, die Forderungen der Bauern in Tirol zu verwirklichen, in der Schweiz Zuflucht gesucht und war Ende 1525 auch nach Zürich gekommen. In der Folge entwickelte sich eine dauernde Freundschaft zwischen den beiden Männern. Gaismair beriet Zwingli in politischen und militärischen Fragen: Der Feldzugsplan, den Zwingli für den Fall, dass Zürich angegriffen werden sollte, ausgearbeitet hatte, lässt Gaismairs taktische Erfahrung erkennen. Dieser unterstützte auch die Bemühungen Zwinglis bzw. des Magistrats der Stadt Zürich, eine großangelegte Koalition gegen Habsburg, den gemeinsamen Feind, auf die Beine zu stellen.

In Gaismairs Landesordnung, die er der von den Ständen in Innsbruck erarbeiteten Ordnung gegenüberstellt, wird Zwinglis Einfluss deutlich erkennbar. Gaismairs Landesordnung ist zwar auf ganz konkrete örtliche und zeitliche Verhältnisse hin geschrieben, wird aber trotzdem von vielen Forschern als eine der großen Staatsutopien überhaupt bezeichnet. Gaismair schwebt ein unabhängiges, republikanisches Tirol vor, in dem Ackerboden, handwerkliche Produktion, Handel und Bergbau Eigentum des ganzen Volkes sein sollten, dem auch die Pflege des Bildungswesens und die Fürsorge für Arme und Kranke obliegen sollten. Selbstverständlich geht er von den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit aus und betont die Notwendigkeit der Abschaffung aller Standesprivilegien, insbesondere der des Adels und des Klerus. Dieses revolutionäre Programm sollte am Ende des Kampfes, für den Gaismair von der Schweiz aus Vorbereitungen zu treffen versucht, Wirklichkeit werden. Gaismair geht darin zweifellos weit über Zwingli hinaus und doch ist er wesentlich vom Reformator bestimmt, wenn er z.B. schreibt: „Das erste Gebot, das dem geeinten treuen Volk auferlegt wird, ist die Ehre Gottes und der Gemeinnutz.“

Im Jahr 1527 hat Erzherzog Ferdinand ein Mandat erlassen gegen „die Schriften Luthers, Oekolampads (der in Basel als Reformator gewirkt hat, Anm. d. Verf.), Zwinglis und andere dergleichen neue verführerische Bücher“.

Offenbar wurden also auch die Schweizer Reformatoren bereits in dieser frühen Zeit hierzulande eifrig gelesen. Wenn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts der sehr lebendige österreichische Protestantismus sich doch in erster Linie auf Luther und das Augsburger Bekenntnis beruft, ist das sicher zu einem großen Teil auf die politische Situation zurückzuführen: nach dem Reichstagsbeschluss von 1555 war lediglich die Confessio Augustana, nicht aber ein reformiertes Bekenntnis im Reich zugelassen. Wenn also die evangelischen Stände bei ihren katholischen Landesherren um Privilegien und Zugeständnisse einkamen, müssten sie sich doch zumindest auf ein rechtlich anerkanntes Bekenntnis berufen können. Dass sie das dann auch taten ist also kein Beweis dafür, dass andere als lutherische, und insbesondere auch zwinglische Elemente in ihrer Religiosität keine Bedeutung mehr hatten. Überhaupt ist starrer Konfessionalismus nie ein besonderes Kennzeichen des österreichischen Protestantismus gewesen, was sich sicher auf das harmonische Miteinander der beiden evangelischen Kirchen, A.B. und H.B., in unserem Lande positiv ausgewirkt hat.

2. International

Bibelstunden

Zu den Zusammenkünften der Prophezei waren auch die Gemeindemitglieder eingeladen, die dadurch an den regelmäßigen Umgang mit der Bibel gewöhnt wurden: Aufmerksames Lesen, das Erwerben von Sachkenntnis zum besseren Verständnis des Textes und die praktische Anwendbarkeit auf das Leben hin waren dabei untrennbar miteinander verbunden. Dazu kam der gottesdienstliche Brauch, ganze biblische Bücher in fortlaufender Lesung („Iectio continua“) zu predigen. Aus diesen Traditionen hat der reformierte Pietismus dann die regelmäßige Gemeinde-Bibelstunde entwickelt, die später in alle Kirchen Eingang gefunden hat.

Der Heidelberger Katechismus

Dieser Katechismus zählt zu den bedeutendsten reformierten Bekenntnisschriften. Sein Erscheinungsjahr ist 1563 – von der 1. Auflage ist nur mehr ein Stück erhalten, das sich im Besitz der Österreichischen Nationalbibliothek befindet. (Die bewusst antitridentinisch formulierte Antwort auf die Frage 80 „Was ist für ein Unterschied zwischen dem Abendmahl des Herrn und der päpstlichen Messe?“ ist nur handschriftlich eingeklebt.) Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz hat den Katechismus an ein Team von Theologen und Laien in Auftrag gegeben, darunter der auch vom Zwinglianismus geprägte Zacharias Ursinus. Zwar ging es Ursinus insbesondere um eine Verbindung von Zwinglianismus und Calvinismus, aber der Katechismus trägt jedenfalls eindeutige „Zürcher“ Züge, und zwar nicht nur, was die Abendmahlslehre betrifft, auch die klassische Einteilung „Von des Menschen Elend – Erlösung – Dankbarkeit“ und die Einheit von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes (Frage 12) gehen auf Zwingli zurück.

Föderaltheologie

Eine der großen Leistungen der Zürcher Reformation war die Wiederentdeckung des biblischen Begriffes vom „Bund (foedus) Gottes“. Bemerkenswert dabei ist, wie bestimmt Zwinglis Lehre vom Einen Bund die Zusammengehörigkeit von Juden und Heiden in der Kirche deklariert. Zum Unterschied von Luther findet sich bei Zwingli kein judenfeindliches Wort! Zwinglis Bundestheologie bietet ein tragfähiges theologisches Fundament für das christlich-jüdische Gespräch.

Das 2. Helvetische Bekenntnis (Confessio Helvetica posterior)

Dieses Bekenntnis ist zur selben Zeit entstanden wie der Heidelberger Katechismus, doch nicht in literarischer Abhängigkeit. Heinrich Bullinger, Reformator und Nachfolger Zwinglis in Zürich, hat es 1562 als persönliches Glaubensbekenntnis in testamentarischer Absicht geschrieben. Friedrich III. von der Pfalz hat es 1566 mit Zustimmung der Schweizer veröffentlicht, um damit vor Kaiser und Reich seinen Übertritt zum reformierten Glauben zu rechtfertigen. Nach dem Heidelberger Katechismus ist die Confessio Helvetica posterior das weitest verbreitete reformierte Bekenntnis. Seine „ökumenische“ Bedeutung lag darin, dass ein Zürcher Bekenntnis seine Glaubenseinheit mit der Kirche von Genf feststellt. Durch Bullingers Bekenntnis fand Zwinglis Theologie besonders weite Verbreitung.

Die Ökumene

Zwingli war in ungebrochen mittelalterlicher Weise durchdrungen von der Katholizität des Christentums im alltäglich gesellschaftlichen Zusammenleben. Den Konziliarismus nahm er ernst; aber das Papsttum, war für ihn, weil römisch, nicht katholisch.
Mit seinem Vorschlag, dass es kirchliche Gemeinschaft auch bei dogmatischen Differenzen geben kann, wenn sich die Kirchen auf eine Art Hierarchie von Glaubenswahrheiten einigen können – hat er als einer der ersten der Ökumene den Weg bereitet.
Seine nüchtern-biblische Art zu argumentieren wehrt den hochkirchlich-sakramentalischen Tendenzen aller Zeiten und gewinnt bei der derzeitigen ökumenischen Diskussion über das „Lima-Papier“ – Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt – neue Aktualität.
Ungenannt gegenwärtig sind Wort und Werk Zwinglis den „Vertikalisten“, die um Erneuerung und Einigung der Kirche durch den Geist ringen; den „Horizontalisten“, die sich an den Reformator erinnern, der entschlossen die „untheological factors“ in Besinnung und Planung einbezog, und den „Theologen der Revolution“, die das praktizierte Widerstandsrecht vor Augen haben.

Peter Karner
Aus: Erika Fuchs, Imre Gyenge, Peter Karner, Erwin Liebert, Balázs Németh: Ulrich Zwingli Reformator. Die Aktuelle Reihe Nr. 27, S. 24-28.