Zwinglis theologische Eigenständigkeit und Originalität hebt sich auf einem zweifachen Hintergrund ab:

1. Die Verankerung in der Geschichte des christlichen Denkens

  • Zwinglis Theologie versteht sich im Einklang mit den Lehren der Alten Kirche (z.B. Trinität), entfaltet;
  • er hat die Kirchenväter, von denen v.a. Augustin ihn stark beeinflusst hat, gründlich studiert;
  • seine theologische Ausbildung war von der spätmittelalterlichen Scholastik, insbesondere der stark an Thomas von Aquin orientierten sogenannten via antiqua, geprägt;
  • schließlich ist er mit dem Humanismus in Berührung gekommen, von dessen Bildungsgut und Denkmodellen er sich auch dann nicht lossagt (ebensowenig wie später Calvin), nachdem er erkannt hatte, dass die Reformbestrebungen der Humanisten keine ausreichende Lösung zu bieten imstande waren.

2. Die Eingebundenheit in die reformatorischen Grundeinsichten

  • solus Christus: Christus allein, der Gekreuzigte und Auferstandene, ist der Zufluchtsort des Menschen in seiner Existenzangst und Gewissensnot;
  • sola gratia: nicht durch eigene Leistungen sondern kraft der Gnade Gottes kann der Mensch vor Gott bestehen;
  • sola fide: erfasst wird die Gnade der Gerechtmachung im Glauben;
  • sola scriptura: die Kirche ist nicht hierarchisch strukturierte Heilsorganisation sondern die Versammlung der Glaubenden, denen auf Grund der Heiligen Schrift das Evangelium gepredigt wird.

Der Reformatorische Ansatz Zwinglis

Was Martin Luther zum Reformator macht, ist die Angst der um ihr Heil ringenden Seele. Die Sorge Ulrich Zwinglis gilt seiner Gemeinde, die er sich immer tiefer verstricken sieht in ein Netz von Gewalttätigkeit, Krieg und Not. Und er sieht die Fruchtlosigkeit der Versuche, diesen für Leib und Seele tödlichen Gefahren zu entgehen, Versuche, die zum Scheitern verurteilt sind, und die die Gemeinde dem Zorn Gottes ausliefern müssen, solange sie nicht Zuwendung zum in seiner Zeit doch wieder machtvoll aufklingenden Evangelium sind, sondern geprägt bleiben vom Festhalten an eigenen Traditionen und Vorstellungen, solange die Hilfe, die allein Gott gewähren kann, von Menschenwerk erwartet wird.

Aus dieser Sorge ergeben sich folgende Schwerpunkte für den Theologen Zwingli, dem es nach eigenen Aussagen um die Ehre Gottes, das Gemeinwohl eines christlichen Staatswesens und den Trost der Gewissen geht (und zwar in dieser Reihenfolge):

  • die Betonung, dass das Heil einzig und allein bei Gott zu suchen ist,
  • die Warnung vor einer Vergottung des Kreatürlichem und damit verbunden das Festhalten an der Freiheit Gottes,
  • die Ganzheit des Wirkens Gottes.

Die einzige Quelle des Heils

Zwingli wendet sich ebenso wie Luther – und noch vor ihm – gegen die von den Humanisten und insbesondere von Erasmus vertretene Lehre vom freien Willen und betont demgegenüber die Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Die Versöhnung Gottes mit dem der Sünde verhafteten Menschen kann durch kein Geschöpf sondern nur durch den ewigen Gottessohn geschehen (Zwingli bewegt sich hier ganz im Rahmen der Satisfaktionslehre des Anselm von Canterbury).

Durch den Sühnetod Christi konnte der Mensch erlöst werden, weil Gott der Handelnde war, und er konnte erlöst werden, weil Gott wirklich Mensch war. Wenn Gott in Christus aber auch wirklich Mensch geworden ist, so ist er doch nicht ganz im Menschsein aufgegangen. (Diese Betonung des Nichtaufgehens im Menschsein – demgegenüber Luther die Menschwerdung an sich betont – ist später unter dem Fachausdruck „extra calvinisticum“ bekanntgeworden.) Zwingli lehnt daher auch die Annahme ab, dass die menschliche Natur Christi Eigenschaften der göttlichen – z.B. die Ubiquität – annehmen kann, was für seine Abendmahlslehre von Bedeutung ist.

Die Freiheit Gottes

Es ist für Zwingli wichtig festzuhalten, dass die Zueignung des Heils nicht an äußere Abläufe gebunden werden kann: das Heil wird in der Predigt verkündet und in den Sakramenten der Gemeinde nahegebracht, wirksam wird es aber nur durch den vom Geist Gottes gewirkten Glauben. Selbst die Erkenntnis der in der Heiligen Schrift bezeugten Wahrheit ist nur vermittels des Heiligen Geistes möglich. Schrift, Predigt, Sakrament sind also nicht automatisch wirkende Heilsmittel: Voraussetzung für den Glauben ist die Gegenwart Gottes – nicht umgekehrt. Daher Zwinglis Ablehnung, tradiertem, kirchlichem Brauchtum, wie z.B. dem Fasten, Heilsbedeutung zuzubilligen.

Hingegen ist es Gott möglich, selbst in Heiden Wahrheitserkenntnis zu wirken, wenn diese auch fragmentarisch bleibt. Die Frage, wer des in Christus geschehenen Heils teilhaftig wird, wer zum Glauben befähigt wird, beantwortet Zwingli wie die meisten Reformatoren mit der Lehre von der Prädestination, bzw. der Erwählung: es ist der freie und unbeeinflussbare Entschluss Gottes, der zum Heil bestimmt.

Die Ganzheit des Wirkens Gottes

Sowohl bei seiner Entfaltung der Satisfaktionslehre als auch bei der Erwählungslehre, wird ein Element deutlich, das für Zwinglis theologisches Denken typisch ist: die „simplicitas“, die Einheit Gottes.

Bei Gott, dem „summum bonum“, fallen Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zusammen: auf Grund seiner Barmherzigkeit erwählt er den Menschen und verbindet ihn mit sich – auf Grund seiner Gerechtigkeit spricht er ihn um Christi willen gerecht und nimmt ihn an. Zwingli sieht daher auch das Gesetz nicht im Gegensatz und Widerspruch zum Evangelium: „Das gsatzt ist dem gotshulder ein evangelium“. Für den Gläubigen ist also ein Leben nach dem Gesetz, oder besser gesagt, das Bemühen darum, eine Selbstverständlichkeit. In Christus sind wir frei vom Gesetz und stehen zugleich auf der Seite des Gesetzes.

Bekannter geworden ist Luthers Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium. Calvin lässt diese zwar gelten, schließt sich ihr aber nicht an.

Für Zwingli jedenfalls kommen Gottes Gnade und seine Gerechtigkeit auf derselben Ebene auf uns zu. Er lehnt es auch ab, verschiedene Grade der Offenbarung anzunehmen (deus absconditus und deus revelatus): Gottes Wirken ist immer ungeteilt. Von diesem Gottesbegriff leitet Zwingli auch die Unbefangenheit her, mit der er sämtlich Bereiche des menschlichen Lebens dem Evangelium unterstellt.

Von Erika Fuchs (Erika Tuppy)
Aus: Erika Fuchs, Imre Gyenge, Peter Karner, Erwin Liebert, Balázs Németh: Ulrich Zwingli Reformator. Die Aktuelle Reihe Nr. 27, S. 20–21.

 

Literatur:

  • Gottfried W. Locher. „Huldrych Zwingli in neuer Sicht.“ Zehn Beiträge zur Theologie der Zürcher Reformation. Leinen, 305 Seiten, Zwingli Verlag Zürich, 1969. Grundlegende Beiträge zur Zwingliforschung überhaupt, darunter u.a. „Grundzüge der Theologie Huldrych Zwinglis im Vergleich mit derjenigen Martin Luthers und Johannes Calvins“. „Die Prädestinationslehre Huldrych Zwinglis“, „Inhalt und Absicht von Zwinglis MarienIehre“.
  • Fritz Büsser. „Huldrych Zwingli – Reformation als prophetischer Auftrag.“ kart., 116 Seiten, Verlag Musterschmidt, Göttingen–Zürich–Frankfurt, 1963.