Ulrich Zwinglis Leben und sein Werk waren durch die kulturelle, gesellschaftliche und politische Situation seiner Zeit mitbestimmt. Er hat sich ganz besonders mit den konkreten Fragen seiner Zeit auseinandergesetzt, versucht, die theologische Dimension der gesellschaftlichen Phänomene ans Licht zu bringen und dann seine Entscheidungen aufgrund der Heiligen Schrift zu treffen. „Ich kenne keinen Reformator, der in so konsequenter Weise das heutige ökumenisch–missionarische Programm der Kirche vorweg genommen hat, die nur Kirche ist, wenn sie die Mauer zum öffentlichen Leben niederreißt und Kirche für die Welt wird“ (Gottfried Locher). Am Anfang des 16. Jahrhunderts war die Schweiz eine „Eidgenossenschaft“, deren staatsrechtliche Verhältnisse sehr unübersichtlich waren, das Volk entwickelte aber einen starken vaterländischen Sinn und war stolz, zur Volksgenossenschaft zu gehören. Grund zu diesem Stolz lieferten die schweizerischen Kriegserfolge, die die Eidgenossen als das beste Kriegsvolk der Welt bestätigten. Die mächtigen Potentaten von Europa warben um die Schweizer Söldner, die durchaus fähig waren, Schlachten zu entscheiden. Durch den Sold, durch die Geschenke, nicht zuletzt durch die geheimen Jahrgelder, die leitende Persönlichkeiten oft von mehreren Seiten zugleich empfangen haben, hob sich der Lebensstandard in allen Volksschichten. Zugleich geriet aber die moralische Kraft ins Wanken. Die heimgekehrten Söldner setzten zu Hause das wüste Lagerleben fort und ließen sich durch obrigkeitliche Gebote nicht in die Schranken weisen. Bei den Männern in höheren Positionen tauchten Bestechlichkeit, unmoralische Lebensführung und Parteihader auf.

Die Kirche, die das geistige Leben beherrschte, hat – wie eigentlich überall in dieser Zeit – versagt. Äußerlich stand sie glänzend da, sie war immens reich und hatte großen Einfluß. Eine geistliche Erneuerung konnte sie aber nicht bewirken. Der Klerus hatte sich entsprechend arrangiert und in den Klöstern waren die Zeichen des Verfalls offensichtlich.

Ein Hoffnungsschimmer war in dieser Situation der Humanismus, dessen Einflüsse in der Schweiz immer mehr Bedeutung gewannen. Die Eidgenossen waren der humanistischen Idee gegenüber besonders aufgeschlossen, die ihren Höhepunkt in Basel durch die Wirksamkeit von Erasmus von Rotterdam erreicht hat. Erasmus führte die Schweizer an die „Pforte der Reformation“, freilich nicht weiter. Er brachte aber das religiöse Denken in Bewegung. Diese politische, gesellschaftliche und geistige Situation hat Zwingli vorgefunden.

Zwingli wurde am 1. Jänner 1484 in Wildhaus, einem hochgelegenen Dorf geboren. Seine Familie stand der Kirche nahe, das hinderte sie aber nicht daran, an den fortschrittlichen Bestrebungen ihrer Zeit und ihres Volkes freudig teilzunehmen. Zwinglis nähere Heimat, das Toggenburg, ein Untertanenland des Abtes von St. Gallen, aber durch das Landrecht mit Schwyz und Glarus geschützt, wehrte sich stets gegen jeden Übergriff der geistlichen Herrschaft. Dabei standen die Zwinglis immer in der vordersten Reihe.

Mit 10 Jahren kam Zwingli in die humanistische Lateinschule nach Basel. Vier Jahre später setzte er seine Ausbildung in Bern fort. Hier erhielt er durch Heinrich Wölflin, der zu den besten Humanisten seiner Zeit zu zählen ist, entscheidende Anstöße für sein späteres Denken.

Nach dieser Vorbildung begann Zwingli seine Universitätsstudien in Wien: Wintersemester 1498/99 und Sommersemester 1500.

Zum Abschluß seiner Studien kehrte er nochmals nach Basel zurück. Dort wurde er 1506 Magister artium. Der aus Biel stammende Humanist Thomas Wyttenbach machte auf ihn großen Eindruck. Von ihm lernte Zwingli die Theologie des Mittelalters kennen. Hier gewann er auch die Überzeugung, dass die einzige Quelle zur Erneuerung der Kirchenlehre nur die Heilige Schrift sein kann. Der Bischof zu Konstanz weihte Zwingli 1506 zum Priester. Er übernahm die Pfarrstelle in Glarus, wo er als Patriot und Volksmann auch am bewegten Leben des Volkes teilnahm. Es waren die Jahre, in denen die Schweiz auf die Höhe ihrer kriegerischen Macht stieg. Die Eidgenossen standen von 1509 an mit dem römischen Papst im Bund, und griffen mehr oder weniger selbständig in das Ringen der Weltmächte in Oberitalien ein. Die Schweizer Mannschaften nahmen zu ihren Kriegsgängen traditionell ihren Pfarrer mit. Auch Zwingli zog mit seinen Landsleuten zweimal über die Alpen. Er war beim Sieg zu Novarra 1513 und bei der Niederlage von Marignano 1515 dabei. Bullinger berichtet in seiner Reformationschronik, dass Zwingli im Heerlager fleißig gepredigt und sich in den Schlachten redlich und tapfer gestellt hat, mit Rat, Worten und Taten.

Das kriegerische Treiben hinterließ in Zwingli sein ganzes Leben lang einen bestimmenden Eindruck. Aus seiner Feder sind Dokumente erhalten, die seine im Laufe der Zeit veränderte Meinung über das Waffenhandwerk widerspiegeln. Im „Fabelisch Gedicht von einem Ochsen und etlichen Tieren“ rühmte er noch die tapferen Krieger und brachte seine Freude zum Ausdruck, dass der Ochse, das Symbol der starken Schweiz, dem Hirten, das heißt dem Papst, willig auf die Bahn der italienischen Kämpfe folgt. Ein eher liebenswürdiges Überbleibsel dieser Zeit ist die Schweizergarde, die „Guardia Svizzera Pontificia“, die Wachtruppe zum Schutz der Person und der Residenz der Päpste – gegründet 1506, und durch Rekrutierungsverträge mit den Schweizer Kantonen gesichert. Die Vereidigung der Schweizer Gardisten findet am 6. Mai zur Erinnerung an den „Sacco di Roma“ 1527 statt.

In einem zweiten Gedicht, im „Labyrinth“, hat Zwingli allerdings den Krieg schon scharf verurteilt. Er hat sich allmählich zur Ansicht durchgekämpft, dass der Soldkrieg keineswegs eine patriotische Tat ist, sondern vielmehr volksfeindlich und darüber hinaus eine große Sünde. Diese Erkenntnis löste sein Reformationswerk aus und begleitete ihn auf seinem ganzen Weg.

In den Jahren 1514–1515 wandte sich Zwingli besonders intensiv dem Studium des Evangeliums zu. Er begann griechisch zu lernen, um die Lehre Christi aus dem „Selbstwort“ Gottes schöpfen zu können. Die erste Frucht dieses Studiums war die kompromisslose Ablehnung des Krieges und der Söldnerpolitik. Wegen seiner unbeugsamen Haltung in dieser Frage wurde seine Lage in Glarus unhaltbar. 1516 übernahm er die Leutpriesterstelle in Maria Einsiedeln, um den politischen Wirrnissen in Glarus zu entgehen. Hier begann er auf der Kanzel statt der damals üblichen Heiligenlegenden und Wundergeschichten das Evangelium auszulegen. Hier war der Anfang seiner reformatorischen Predigt, die aber bei der abergläubischen Pilgerschaft des Wallfahrtsortes kaum Aufnahme fand.

Ende 1518 wurde Zwingli auf die Leutpriesterstelle des Großmünsters in Zürich berufen, das heißt auf die Stelle des Seelsorgers der Pfarre, welche dem Chorherrenstift inkorporiert war. In Zürich begann er seine Wirksamkeit damit, dass er die seit 700 Jahren übliche Perikopen-Ordnung absetzte und mit der laufenden Auslegung der Bibel (zuerst mit dem Matthäus-Evangelium) begann. Seine Reden waren sehr publikumswirksam. In seiner populären Weise brachte Zwingli alle Fragen auf die Kanzel, die das Volk beschäftigte, auch die Politik, einmal sogar die deutsche Kaiserwahl.

Das Jahr 1519 war für Zwingli ein Schicksalsjahr. Im Herbst brach in der Schweiz die Pest aus, auch Zwingli wurde von der Seuche befallen. Die Todesnähe war für ihn eine tiefe existentielle Erfahrung. Seine Seele war nun vom Bewußtsein der unbedingten Abhängigkeit von Gott erfüllt („Dein Ton bin ich.“), gleichzeitig von dem Bewußtsein, mit Christi Hilfe „tapfer Widerstand tun gegen des Teufels Netz und Frevlerhand“ , und so in Zukunft Gottes „Lob und Lehr aussprechen mehr“ gegen alles „trotzig Gepoch auf Erden“. Damit war Zwingli zu einer religiösen Grunderfahrung der Reformation gelangt.

Zwingli war dem Geist seiner Zeit entsprechend Humanist. Besonders die Ideenwelt des Erasmus beeinflusste seine Entwicklung. Erasmus war sein Vorbild im Studium der Kirchenväter und der Heiligen Schrift, sein „biblischer Humanismus“ konnte aber nicht folgen, als Zwingli den Weg der Reformation, und damit den Weg der Tat, beschritt. Gerade im Schicksalsjahr Zwinglis, 1522, ist seine Verbindung mit Erasmus abgebrochen. Zwingli wurde vom Humanisten zum Reformator.

In der Fastenzeit des Jahres 1522 veranstaltete der berühmte Drucker Froschauer in seiner Werkstatt ein Wurstessen, an dem auch Zwingli, allerdings nur als Zuschauer, teilnahm. Dieser Bruch des kirchlichen Fastengebotes erregte nicht nur in Zürich die Gemüter, sondern wurde auch vom Bischof von Konstanz als Kampfansage gewertet. Zwinglis erste wirklich reformatorische Schrift erschien in diesem Zusammenhang und befasste sich mit der Belastung des Gewissens durch äußere Satzungen und Werkgerechtigkeit. „Von Erkiesen und Freiheit der Speisen“, war der Titel dieser Schrift. In zwei weiteren, später gedruckten Schriften forderte Zwingli die katholische Kirche auf, die evangelische Predigt freizugeben und die Priesterehe zu erlauben.

Er forderte den Bruch mit der „alten“ Kirche, predigte gegen die Klöster, gegen den Beichtbetrieb, gegen unbiblische Texte und über viele anderen Themen, wobei seine grundlegende Richtung klar erkennbar wurde. Er wollte die Äußerlichkeiten und die rein äußerlichen Bräuche völlig abschaffen, wenn sie mit dem biblischen Wort in Widerspruch standen. Die Anhänger der alten Kirche, vor allem die Mönche und die politischen Gegner Zwinglis, wehrten sich natürlich. Der Züricher Rat fasste aber 1522 den Beschluss, dass weiterhin evangelisch gepredigt werden soll, und damit war der Wille zur Reformation verbrieft. Im nächsten Jahr schafften zwei öffentliche Glaubensdisputationen in Zürich in der Religionsfrage endgültig Klarheit. Sie führten dazu, dass der Rat in einem Beschluß niederlegte: Das Evangelium ist die einzige Grundlage der Kirche. Das war das öffentlich feierlich verabschiedete Grundgesetz der sich bildenden papstfreien Landeskirche in Zürich.

Für die Disputation in Zürich setzte Zwingli seine 67 Thesen (Artikel) auf. Waren Luthers 95 Thesen noch gegen Missbräuche und Verirrungen der katholischen Kirche gerichtet, so enthielten die 67 Thesen ein reformatorisches Programm. Zwingli brachte im Juli 1523 einen Kommentar zu den 67 Thesen heraus. Das Werk trug den Titel: „Usslegen und Gründ der Schlußreden“ und wurde zu einem wichtigen Dokument der Reformation. Zwinglis Lehre fand beim Volk und bei den Behörden in Zürich volle Zustimmung. Nun konnte die praktische Verwirklichung der aus dem Evangelium gewonnenen Erkenntnisse auf sozialem, pädagogischem und kirchlichem Gebiet erfolgen.

Die „fünf Orte“ der schweizerischen Eidgenossenschaft stellten sich von Anfang an gegen die Reformation, während Basel zu Zürich stand. Das Zentralorgan der Eidgenossenschaft, die Tagsatzung, wurde von den Gegnern Zwinglis beherrscht. In den der Tagsatzung direkt unterstellten gemeinen Herrschaften kam es zur Verfolgung der Anhänger der Reformation. Klaus Hottinger wurde in Luzern verurteilt und hingerichtet. Es blieb nicht bei diesem einem Märtyrer und ein Bürgerkrieg schien unvermeidlich. Die Bedrängnis von Zürich löste sich erst dadurch, dass die Schweizer Söldner in Italien eine vernichtende Niederlage erlitten, allein Zürich hatte keine Verluste. Das bedeutete eine Bestätigung der Politik Zwinglis und ermöglichte die Fortsetzung seines Reformationswerkes.

Nun wurde Zürich grundlegend reformiert. Die Klöster wurden aufgelöst, die Messe abgeschafft, der Gottesdienst war allein auf die Predigt ausgerichtet. Die theologische Begründung der Schweizer Reformation lieferte Zwingli in seinem Werk „Commentarius de vera ac falsa religione“. Dieses Werk kann als das erste dogmatische Lehrbuch des reformierten Protestantismus angesehen werden. In diesem Werk sind auch die ersten Richtlinien für die Auseinandersetzung mit der lutherischen Reformation enthalten.

Doch zunächst zeichnete sich eine Gruppierung der radikalen Elemente in Zürich immer deutlicher ab. Das Symbol ihrer schwärmerischen und revolutionären Ansichten war die „Wiedertaufe“, genauer gesagt die Taufe des sich zu Christus bekehrt habenden Erwachsenen. Das revolutionäre Moment, am schärfsten von Thomas Münzer artikuliert, trat allerdings neben der leidenschaftlich verfolgten Tauf–Frage in den Hintergrund. Das Täufertum besaß einen außergewöhnlichen Reichtum an religiöser Energie, die aus sittlichem Eifer allerdings auch zur Verwerfung der staatlichen Gesetze überhaupt führte. Die „unbelehrbare Schwärmerei“ gefährdete daher die werdende reformierte Kirche. Zwingli wandte sich hart und entschieden gegen das Täufertum, das zwar seinem Reformationswerk entstammte, aber bald Luther und Zwingli ebenso verteufelt hat wie den Papst. Die Täuferbewegung hat sich in ganz Mitteleuropa verbreitet. Auch in Österreich kam es zu einer Täuferbewegung, die von der katholischen Kirche verfolgt wurde. Einer der prominentesten Täufer, Balthasar Hubmair, der anfänglich Zwinglis Mitarbeiter war, wegen seiner Lehre aber Zürich verlassen musste, wurde in Wien 1528 als Ketzer verbrannt.

Zwingli ist unabhängig von Luther Reformator geworden, seine Reformation ging eigene Wege. So musste die Konfrontation Zürichs mit Wittenberg zu harten theologischen Auseinandersetzungen führen. Der Streit begann zunächst mit der Herausgabe von Lehrschriften, ohne dass es zu einer unmittelbaren Auseindersetzung zwischen Luther und Zwingli gekommen wäre. Die ersten Stellungnahmen, die Zwingli 1527 Luther direkt übermittelte, waren die „Amica exegesis, id est expositio eucharistiae negotii ad M. Lutherum“. Und deren kürzere deutsche Fassung: „Freundliche Verglimpfung und Ablehnung über die Predigt des trefflichen Martin Luther wider die Schwärmer.“ 1529 kam es dann zum historischen Abendmahlstreit zwischen den beiden großen Reformatoren. Der Landgraf Philip von Hessen, der den Schweizern eine vorurteilsfreie Würdigung entgegenbrachte, wollte ein Protestantenbündnis in Europa zustande bringen. Dieser Gedanke kam den politischen Interessen der Züricher durchaus entgegen. Dazu war aber eine theologische Annäherung der beiden Reformationsrichtungen, ganz besonders in der verschiedenen Abendmahlslehre nötig. Das sollten die berühmten Marburger Religionsgespräche bewirken, zu denen der Landgraf Luther und Zwingli eingeladen hatte. Die politisch wünschenswerte reformatorische Einheit konnte in Marburg aber nicht erreicht werden, viel mehr wurde der Bruch zwischen Reformierten und Lutheranern vollzogen.

Gerade als der Abendmahlsstreit im Gange war, erreichte Zwinglis Reformation ihren Höhepunkt. 1528 fand in Bern ein Religionsgespräch statt, das zu einem großen Triumph Zwinglis wurde, auf alle Evangelischen der Schweiz als Signal wirkte und alle durch die Reformation erreichten Orte zu einem Zusammenschluß motivierte.

Auf der anderen Seite rüsteten sich die katholischen Kantone zum Kampf und schlossen sogar mit dem „Erbfeind“ Österreich ein „christliche Vereinigung“. 1529 konnte das Blutvergießen noch einmal verhindert werden. (Als Zeichen der Versöhnung aß man gemeinsam eine Milchsuppe.) Die Tragödie warf aber ihre Schatten voraus. 1531 standen die Heere der katholischen Urkantone und der reformierten Verbündeten bei Kappel einander wieder gegenüber. Auf beiden Seiten engagierte Kämpfer, die einen echten Religionskrieg ausgefochten haben. Zwingli fiel in der Schlacht am 11. Oktober 1531. Sein Leichnam wurde am nächsten Tag gefunden. Die fanatischen Gegner haben ihn gevierteilt, verbrannt und die Asche „ertränkt“.

Nach der Ansicht moderner Historiker hat diese blutige Auseindersetzung der Schweiz allerdings so etwas wie den 30jährigen Krieg erspart! Zwinglis reformatorisches Werk und sein politisches Engagement sind nicht ohne Früchte geblieben. Das beweisen jetzt bald fünf Jahrhunderte Kirchengeschichte.

Imre Gyenge
Aus: Erika Fuchs, Imre Gyenge, Peter Karner, Erwin Liebert, Balázs Németh: Ulrich Zwingli Reformator. Die Aktuelle Reiche Nr. 27, S. 5–11.

 

Literatur:

  • Michael Forcher, Um Leben und Gerechtigkeit. Michael Gaismair – Leben und Programm des Tiroler Bauernführers und Sozialrevolutionärs 1490–1532, Haymon Verlag, Innsbruck 1982.