»Es könnte das protestantische Abenteuer in einer nichtprotestantischen Welt eine neue Seite im Buch der Geschichte aufschlagen.« In einer Zeit der Ohnmacht, der Restauration und des Stillstands nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte Wilhelm Dantine eine neue Vision von der Evangelischen Kirche in Österreich: die Vision einer zukunftsfähigen Kirche, die als Licht auf dem Berg und als »protestantisches Abenteuer« auferstehen könne. Protestantische Minderheitskirchen bergen einen geistigen Schatz, meinte Dantine 1959, »der weithin noch ungehoben schlummert.« Diesen Schatz zu beheben, darin bestehe das Abenteuer. Das Bekenntnis zu Österreich in der Schrift »Wir und unser Staat« (1955), in dem er die Verfolgungsgeschichte der Gegenreformation und des Ständestaates ernst nahm und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem neuen Bewusstsein einlud, war der erste Schritt.

Den Kontext hatte er entscheidend bestimmt: Es war der einer kleinen Kirche inmitten einer »nichtprotestantischen Umwelt«. Die Vision war deshalb von vitaler Bedeutung, weil der Protestantismus in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg vor einem Wandel stand. Die an eine Umkehr glaubten und neu beginnen wollten, die noch immer von einer Sendung, einem Sinn und einem eigenen Weg des Protestantismus in Österreich überzeugt waren, konnte Dantine mit seiner ganzen Leidenschaft nach 1945 zu einem Aufbruch gewinnen. Er war einer der bedeutendsten evangelischen Theologen Österreichs, ein politischer Theologe, der sich mit Nachdruck dafür einsetzte, dass die Kirche Verantwortung für die österreichische Gesellschaft und eine »Weltverantwortung« habe. Beim Aufbau einer Evangelischen Akademie im Albert-Schweitzer-Haus versuchte er gemeinsam mit einem größeren Freundeskreis (Ulrich Trinks, Harald Uhl) Anschluss an die deutsche Akademiearbeit zu finden. Der öffentliche Auftrag der Kirche – gemäß der Tradition der Bekennenden Kirche – wurde von ihm eingemahnt. Dieses politische Konzept brachte viele innerkirchliche Kämpfe mit sich, denen er nicht aus dem Weg ging. Wie wenige vor ihm hielt er dem Konflikt stand. Theologisch begriff er sich als Schüler des reformierten Schweizer Theologen Karl Barth und setzte sich für die theologische Aussöhnung zwischen Barth und der Theologie Luthers ein.

1942-1945 zum Kriegsdienst eingezogen und an der Ostfront eingesetzt, bedeuteten Krieg und Gefangenschaft (in britischen und amerikanischen Lagern) eine wichtige Zäsur. 1948 wurde er zum Leiter des Theologenheims bestellt. Als Seelsorger und mitreißender Theologe der Studentengemeinde war er damals vielen Studentinnen und Studenten Leitfigur und Identifikation. Der Wiener evangelischen Studentengemeinde wurde die Ruine der alten Garnisonkirche zur Heimat und zugleich auch Aufbruchsort eines neuen Weges, der die Kirche mit der Verantwortung für die Welt konfrontierte – unter dem Sendungswort des Kirchenvaters Tertullian »Vocati sumus ad militiam Dei vivi« (Wir sind zum Dienst des lebendigen Gottes gerufen). Aus der Arbeit mit den Studentinnen und Studenten entstanden zahllose internationale Kontakte (Christlicher Studenten-Weltbund), der ökumenische Aufbruch begann. Im Rahmen seiner Dozentur behandelte Dantine alle Bereiche der Systematischen Theologie, wobei er mehrere interdisziplinäre Dialoge suchte. Einer davon war der mit der Rechtswissenschaft im Blick auf die Eherechts-und Strafrechtsreform, ein anderer der mit der Medizin zu verschiedenen ethischen Fragen. Dem Kirchenrecht und Staatskirchenrecht, Grundlagenfragen der Rechtstheologie und -theorie sowie der Politischen Ethik galt ebenfalls sein Interesse.

Nach der Arbeit in der Studentengemeinde übernahm er das Wiener Ordinariat für Systematische Theologie: Er promovierte 1950 und habilitierte sich 1955 für Systematische Theologie (»Versuch einer Theologie der Gnadenmittel«). Der literarische Durchbruch gelang ihm mit seiner dogmatischen Untersuchung »Die Gerechtmachung des Gottlosen« (1959). Sein engagierter Einsatz für die innerprotestantische Verständigung zwischen lutherischer und reformierter Tradition, die Leuenberger Konkordie, stieß auf Vorbehalte bei der lutherischen Kirchenleitung, mit der er auch noch andere Machtkämpfe auszuhalten hatte. An der Frage der Autonomie des Jugendwerkes und dessen Zeitschrift anstoß gegenüber der Kirchenleitung entzündete sich ein heftiger Konflikt, ebenso auch einer um die Weisungsgebundenheit oder -freiheit der Pfarrer. Dieser führte 1967, 450 Jahre nach dem Thesenanschlag, zur Bildung einer Arbeitsgemeinschaft (»Aktion 450«), eine in der österreichischen Kirchengeschichte einzigartige Opposition zur Kirchenleitung.

Im Zentrum dieser Aktion stand neben dem Neutestamentler Gottfried Fitzer (1903-1996) Wilhelm Dantine sowie dessen Sohn Johannes Dantine. Mit Wilhelm Dantine und seinem reformierten Kollegen Kurt Lüthi hatte die Wiener Fakultät jahrelang ein berühmtes dogmatisches Doppelgestirn. Als Professor der Systematischen Theologie sah er sich selbst als Schlüsselstelle für den Dialog mit gesellschaftlichen Gruppen. An der Arbeit im Rahmen des christlich-jüdischen Dialogs und des christlich-marxistischen Dialogs der Paulusgesellschaft nahm er ebenso teil wie an den Forschungsgesprächen in der Österreichischen und Internationalen Teilhard-de-Chardin-GeseIIschaft und der Stiftung Pro Oriente. Die Kontakte mit der römisch-katholischen Kirche, insbesondere Gespräche im Freundeskreis um Otto Mauer und Ferdinand Klostermann, waren neu und für den ausgezeichneten Kenner des Katholizismus Dantine eine Bereicherung für den Dialog. Für die Strafrechtsreform, die unter der Ministerschaft von Christian Broda abgeschlossen wurde, erstellten Dantine und ein Juristenkreis innerhalb der Evangelischen Akademie theologische und juristische Stellungnahmen (Fristenlösung). In den europäischen theologischen Konferenzen zur Erarbeitung der Leuenberger Konkordie (Kirchengemeinschaft der Lutherischen, Reformierten und Unierten Kirchen in Europa) vertrat Dantine beide Evangelischen Kirchen in Österreich und trug maßgeblich zur Formulierung der Leuenberger Konkordie bei.

Er engagierte sich für die Jugend – sowohl im Rahmen der Jugendforschung als auch im Kuratorium des Ökumenischen Studentenheimes AIbert-Schweitzer-Haus, an dessen Errichtung in unmittelbarer Nähe der Wiener Universität sich Dantine maßgeblich beteiligte. Darüber hinaus unterstützte er die Anliegen der Gesellschaft Pro mente infirmis durch Mitarbeit im Vorstand. Im Rahmen der universitären Selbstverwaltung nahm er wiederholt die Agenden eines Dekans und Vertreters im Akademischen Senat wahr.

Eine Berufung nach Tübingen schlug er aus, die Beziehungen wurden durch die Verleihung des Ehrendoktorats (1968) vertieft. Ein weiteres Ehrendoktorat wurde Dantine von der Reformierten Theologischen Akademie Budapest 1981 zuerkannt, doch die Ehrung konnte nicht mehr durchgeführt werden. Wilhelm Dantine wurde zum großen Kirchenlehrer einer protestantischen Minderheitskirche Ostmitteleuropas und prägte eine ganze Studentinnen- und Studentengeneration entscheidend. Den engen Kontakt zu europäischen lutherischen und ökumenischen Kirchengemeinschaften pflegte er in besonderer Weise.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 55 – 57