Hervorgegangen war der „anstoss“ aus den Diskussionen um seine Vorgänger „Das Banner“ und aus der Neubestimmung der Zielgruppe: es sollte auch die fernstehende, in der Jugendarbeit nicht integrierte Jugend sein. Die Redaktionsarbeit wurde von einem jungen Team aufgenommen, der Schriftleiter war schon damals Kurt Schlieben, heute Chefredakteur des „anstoss“. Die Redaktion mußte viel lernen und hat auch viel gelernt. Heute gilt der „anstoss“ als eine der besten Jugendzeitschriften [1], seine Qualitäten werden ihm auch von seinen Gegnern nicht abgesprochen. Seit Mitte 1968 wird die Beilage „ARGUMENTE“ beigelegt, bestimmt für evangelische Akademiker, für die ein eignes Blatt aus finanziellen Gründen nicht möglich ist.

Im Grundkonzept heißt es: es sei Aufgabe diese Blattes, „Sich zu allererst ganz bewußt und ungekünstelt zu interessieren für alles, was den jungen Menschen beschäftigt, wie er denkt, fühlt und reagiert, ihn versuchen zu verstehen in seiner Freude und seinem Leid, in seinen Absichten und Reaktionen, ihm zu helfen in seinen offenkundigen Nöten ebenso wie in den schwierigen Auseinandersetzungen mit seiner Umwelt und ihm zu dienen, indem es ihn bei seinen Bemühungen, sein Leben zu meistern, begleitet und für  seine Fragen eine vom evangelischen Gesichtspunkt gesteuerte Antwort bereithält“. Heute würde wahrscheinlich anders formuliert werden müssen. Damals aber schon hätte man die Illusion, man hätte ein Bündel gebrauchsfertiger Antworten bereit, nicht haben dürfen. Daß sie dennoch vorhanden war, zeigt deutlich, wie „brav“ die Jugend damals eigentlich noch war und weist vor allem deutlich auf eine andere, verhängnisvollere Illusion hin: die Illusion, als könnte man konfliktfrei einen kirchlichen Außenposten beziehen, um von dort zu den Außenstehenden zu reden, mit ihnen zu diskutieren, sich mit ihnen zu solidarisieren. Konfliktfrei geht das heute wohl kaum; sicher nicht, so mußte man lernen, im Rahmen der Evangelischen Kirch von Österreich. Jedenfalls wurden Herausgeber und Redaktion sehr bald von dieser Illusion geheilt. Nach der ersten Novembernummer kam es zum Eklat.

Von einem Gespräch mit dem damaligen Oberkirchenrat, heute Bischof, Oskar Sakrausky wird berichtet, er habe geäußert: „Die jungen Leute erheben anmaßende Führungsansprüche, die geradezu skandalös sind. Die Gemeinde bringt schwierige Aufgaben mit sich, die zu bewältigen es geistiger Verantwortung und Gefühl bedarf. Deshalb werden die Erfahrenen gebraucht. Die Jugend aber macht tabula rasa. Sie will in anmaßender und arroganter Weise dort aufgenommen werden, wo man ihr das zustehen will. Auch wenn die Generation der Älteren den Krieg verloren hat, auch wenn sie manchmal verloren erscheint, auch wenn Institutionen Korrekturen nötig haben, kann eine solche revolutionäre Haltung nicht akzeptier werden. Den Synodalausschüssen müsse mitgeteilt werden können, ob es sich hierbei um einen positiv einzuschätzenden Versuch handle… oder ob es sich um Stänker handelt, die nur Krawall machen wollen. Er fragt, ob das Jugendwerk Stimmen zu Wort kommen lassen will, die verantwortlich, dumm und arrogant seien…“ (laut Protokoll der Ständigen Vertretung des EJW vom 22.1. 1964).

Im Rückblick erscheint der Anlaß wenig wichtig. Es handelte sich um kritische Stellungnahmen zur Kirche überhaupt, einen Angriff auf eine Entscheidung der Evangelischen Filmgilde bezüglich des Bergmann-Films „Licht im Winter“ (man könne diesen Film nicht als evangelische Verkündigung verstehen, wollte daher seine Aufführung im Rahmen der Festwoche des religiösen Films verhindern, distanzierte sich schließlich, als das nicht gelang, völlig von der Veranstaltung), einen empfundenen, wenn auch nicht gewollten Angriff auf die kirchliche Bautätigkeit (dem Bild einer modernen Kirche war das eines verfallenen Wohnhauses gegenübergestellt), eine Weihnachtsnummer, die nicht von Weihnachten sprach, sondern von der kosmischen Dimension des Menschen und vom mündigen Menschen und von Prometheus (was nicht ganz verständliche Assoziation auslöste, der „anstoss“ sei „kryptokommunistisch“).

Die Kirchenleitung wollte den Austausch der Redaktion erzwingen, sie sprach dem „anstoss“ ab, eine evangelische Jugendzeitschrift zu sein, verstand das als lehrzuchtliches Urteil, führte aber kein ordentliches Verfahren durch. Sie wollte ihm die finanzielle Basis entziehen, konnte es aber nicht, wenigstens bis jetzt nicht. Aber landeskirchliche Mittel dürfen für den „anstoss“ nicht verwendet werden.

Der akute Streit dauerte etwa ein Jahr, dann wurde er mühsam beigelegt. Inzwischen spricht man nicht mehr die gleiche Sprache, aber die Auseinandersetzung wurde immer wieder von neuem akut. Vom Evangelischen Jugendwerk wurde verlangt, sich vom „anstoss“ zu trennen, denn es belaste sich mit ihm zu sehr. Die Versicherung im Impressum, der „anstoss“ sei kein offizielles Organ des Jugendwerkes, beruhigte niemanden. Und im März 1970 sagte der synodale Dr. Eder in der Generalsynode: „Sie (die Jugendkammer) muß eben dafür sorgen, daß dort  (im „anstoss“) zwar jeder etwas sagen kann, aber daß nicht etwas geschieht was der überwältigenden Mehrheit unseres Kirchenvolkes eben nicht nur nicht paßt – das wäre bedeutungslos -, sondern was bei der überwältigenden Mehrheit des Kirchenvolkes nicht nur mit Anstand und Moral usw. Und staatsbürgerlicher Treue und Zucht, sondern auch mit der Verkündigung der Lehre Christi nichts zu tun hat. Wenn das geschieht, wenn die Jugendkammer einsehen würde, daß sie sich mit dem „anstoss“ immer belastet, und zwar, daß sie sich schon so lange damit belastet hat, daß es der schweigenden Mehrheit jetzt zu dumm wird. Und Sie können überzeugt sein, wir werden einen Weg finden, die Jugendkammer zu zwingen, den „anstoss“ wegzutun…“ (abgedruckt im „anstoss“ 5/1970, S. 17ff.).

Dieser Konflikt muß vor dem Hintergrund der österreichischen Kirchengeschichte verstanden werden. Die evangelische Kirche war in Österreich seit der Gegenreformation Minorität, brauchte lange, bis sie anerkannt wurde, hatte auch nach der gesetzlichen Gleichberechtigung große Schwierigkeiten.[2]

Die ev. Kirche war vor 1938 ausgesprochen pluralistisch. Die einzelnen Gemeinden wurden in der Regel von verschiedenen deutschen Landeskirchen mit Pfarrern, Gesangbüchern, sonstiger Literatur versorgt und unterschieden sich dementsprechend. Der Oberkirchenrat war eine staatliche Behörde und hatte wenig Interesse, noch weniger Befugnis, in die religiöse Entwicklung einzugreifen. Im Gegensatz zu ihm war die Kirche zur brüderlichen Gemeinschaft gezwungen. Es gab keine Behörde, die irgendein Gesangbuch, oder eine Meinung durchsetzen konnte oder wollte. Dieser Pluralismus war ein entscheidender Grund für die Eliterolle dieser Kirche[3]: Im evangelischen Pfarrer wurde eine religiös-sittliche Autorität gesehen, der niemandes Sklave war, der keine Weisungen einholen mußte, der nur Gott und seinem Gewissen verantwortlich war. Sehr bald mehrten sich aber die Stimmen, die nach einer größeren Einheit riefen, zur gleichen Zeit, als es darum ging, das Bewußtsein zu entwickeln, als Kirch eigenständig, nicht vom Staat abhängig u sein. Mit der Beseitigung der Monarchie 1918 fiel ja auch die alte staatskirchenrechtliche Verklammerung. Das Bewußtsein, ähnlich eigenständig zu sein, war aber auch von einem anderen Gefühl  begleitet: Wie in Deutschland verursachte der Zusammenbruch der Monarchien ein plötzliches, unerwartetes, auch unerwünschtes Autoritätsvakuum, das man glaubte, auffüllen zu müssen. So wurde nach der einen Kirche und dem einen Bischof, als  deren Repräsentanten und als neue, geistliche Autorität gerufen. Verlief die erste Phase der Einheitsbewegung in Österreich ähnlich wie in Deutschland, zeigten sich sehr bald grundlegende Unterschiede, nämlich im Kirchenkampf, der in Österreich nicht stattfand. Sicher war die äußere Situation anders. Es herrschte seit 1933 der katholische Austrofaschismus, der der evangelischen Kirche größeren Zusammenhalt aufzwang. Die Manöver der Kirchenleitung aber, mit den DC wie mit der BK Kontakte aufzunehmen, die Auseinandersetzung zu beobachten, sich aber nicht einzuschalten, müssen als mehr als nur situationsbedingt erscheinen, nämlich als Auswirkung einer Einheitsideologie. Erstmals trag auch die Angst auf, ausländische Auseinandersetzungen könnten nach Österreich importiert werden. Entsprechend war auch die Reaktion auf den Zusammenbruch des Reiches. Die Kirche wurde als Schutzdach empfunden, unter dem man überleben kann. Miteinander vereint, auf einer höheren Ebene, der kirchlichen außer- und überpolitischen, konnte man dann auch meinen, sich die Auseinandersetzung über die Vergangenheit und erst recht ein Schuldbekenntnis ersparen zu können. („Man“ ist immer das, was als das „protestantische Milieu“, das „Establishment“ bezeichnet werden könnte).

Vor diesem Hintergrund mußte eine Zeitschrift wie der „anstoss“ als unerhörte Herausforderung wirken. Es ist kein Zufall, wenn in der zitierten Äußerung von Oberkirchenrat Oskar Sakrausky von eben dieser Erfahrung des verlorenen Krieges gesprochen wird. Damit wird aber auch schon deutlich, daß es, zumindest in der ersten großen „anstoss“-Krise, nicht so sehr um einen Generationenkonflikt ging, sondern um einen grundsätzlicheren: letztlich einen Konflikt, der zu anderen Zeiten  als kirchentrennend empfunden wurde. So finden wir auch mehr oder weniger immer die gleiche Gruppe in allen strittigen Fragen engagiert: für den „anstoss“, für ökumenische Öffnung, gegen Weisungsrecht, für ordentliche, menschliche Verfahrensweise der kirchlichen Verwaltung. Es ist die gleiche Gruppe, die den Kirchenkampf geistig mit- oder nachvollzogen und sich den Fragen des Jahres 1945 gestellt hat, aber auch Widerstand leistet gegen jede Verkehrung des reformatorischen Kirchenverständnisses.[4] Wenn sich in gewisser Hinsicht die Situation durch neuere Fragestellungen verändert hat, und wenn die Gegner im „anstoss“ auch neue „Anstöße“ finden können, hat sich doch an der Ausgangsituation nichts geändert. Auch die neueren Konflikte rollen vor diesem Hintergrund ab. So ist noch immer berechtigt, was 1964 W. Dantine und G. Fitzer in einer Stellungnahme zum „anstoss“-Konflikt schrieben: „Am „anstoss“ hat sich der Gegensatz zweier verschiedener Verstehensweisen von dem, was Kirche ist, entzündet! Auf der einen Seite identifiziert sich die Kirchenleitung mit Kirche, auf der anderen Seite wird Kirche mit den in ihr lebenden, sich als evangelische Christen bekennenden Gliedern ineinsgesetzt. Zweifellos wird dieser Gegensatz überlagert durch den Unterschied in der Weltauffassung durch die ältere Generation und die moderne Jugend… Die Weise der Behandlung der Vertreter des EJW als „dumme Jungen“ will in einer Art Vogel-Strauß-Politik einfach nicht sehen, daß das Verständnis von Kirche, das die „Jungen“ haben, nicht nur maßgebliche Lehrer der Kirche in der Gegenwart und aller Zeiten hinter sich hat, sondern vor allem auch jenes presbyterial-synodale Prinzip, aus dem unsere Kirchenverfassung geboren ist“. (August 1964)

Sicher genügt der Verweis auf den geschichtlichen Hintergrund nicht, um die theologische Frage zu beantworten, inwieweit mit dem „anstoss“ Verkündigung getrieben wird oder nicht, ob er eine „evangelische Jugendzeitschrift“ sei. Denn daß er das nicht sei, ist ja das Hauptargument gegen den „anstoss“. Auch wenn dann der Redaktion zugestanden wird, subjektiv überzeugt zu sein, Verkündigung zu betreiben, wird der Erfolg bezweifelt. So schreib etwa der Wiener Superintendent: „Sicher ist mir, daß es kaum einen Leser gelingen wird, aus der Vielfalt der Beiträge… dieses eine Zeugnis herauszuhören, das der eigentliche Auftrag der Kirche des Evangeliums auch heute noch ist“ (anstoss 5/1969, S. 13; ähnlich in einer Stellungnahme vom 24.1. 1967).

Nun zeigt sich aber, daß gerade die Frage nach den theologischen Argumenten zu einer Bestätigung der Hintergrundanalyse führt. Präzise theologische Argumente werden nicht formuliert. Weder im ersten Konflikt, wo offensichtlich gewissenhaft vermieden wurde, den Vorwurf, der „anstoss“ sei kein evangelisches Blatt, zu präzisieren, noch in den späteren Stellungnahmen. Georg Traar schreibt in der Stellungnahme vom 24.1. 1967: „Immer wieder überwiegt in den Heften des „anstoss“ weithin ungerechte und zumeist maßlose und lieblose Kritik. Mit solcher Kritik aber baut man nicht auf. Sie reißt ein und zerstört… daß immer wieder mit anmaßender Überheblichkeit geurteilt wird und daß Begriffe wie Ordnung und Verantwortung besonders dann verdächtig erscheinen, wenn sie im Raum der Kirche ihr unabweisliches Recht fordern“. Wenn auf bestimmte Artikel verwiesen wird, sind die Verweise zufällig. Die eigenen Argumente und Behauptungen werden nicht hinterfragt. Darum bleibt die theologische Frage ausgeklammert. So auch bei Wilhelm Dantine in einer Stellungnahme: „Natürlich weiß ich, daß die Kritik am „anstoss“ sich gerade daran entzündet, daß behauptet wird, vom Salz des Evangeliums zu wenig verspürt zu haben. Freilich: der Kritiker gibt es verschiedene, und es hat auch sehr viel Kritik gegeben, der einiges sehr salzhaltige Christliche im „anstoss“ nicht in den Kram paßte, und darum hält man sich gerne an Dinge, die leicht zu kritisieren, aber schwer besser zu machen sind. Aber selbstverständlich würde es zu begrüßen sein, wenn ehrliche Hilfe auf den Plan träte – sie müßte mindestens den Willen der Ehrlichketi und Aufrichtigkeit aufwenden, mit dem der bisherige Redaktionsstab und der Redaktionsausschuß sich nach ihrem Verständnis für ihr Blatt eingesetzt haben. Eine solche kritische Hilfe müßte selbst auch sich der der Redaktionsdiskussion stellen…“. Aber eben dazu kam es nicht, nicht zu einer freundlichen und nicht zu einer streitbaren theologischen Auseinandersetzung. Theologische Gründe wurden nur mit Donnerrollen beschworen, sie stellten sich aber nicht ein.

Was sind aber nun die eigentlichen Gründe für die Kritik? „Lieblosigkeit in der Kritik“, „Unverschämtheit“ u.a. Sie werden am meisten genannt. Dahinter steht eigentlich die Ablehnung jedes Meinungspluralismus, und zwar aus Angst vor Auseinandersetzungen in der Kirche. Die Hintergrundanalyse zeigt die Geschichte dieser Angst. Sie wird so ausgedrückt, daß die österreichische Kirche zu klein sei, um Auseinandersetzungen größeren Umfanges aushalten zu können, daß der notwendige Gemeindeaufbau darunter leiden würde. So schreibt etwa Bischof Sakrausky, diesmal über die Beilage „ARGUMENTE“ am 19.8. 1970: „Presseerzeugnisse, gleich auf welchem Gebiet (bedeuten) eine Multiplikation von Meinungen … Dieser Tatsache bewußt, wird man sich als Bischof fragen müssen, ob man einer Multiplikation der Beiträge der „ARGUMENTE“ mit der Spannungsbreite zwischen Ja und Nein zustimmen kann, wenn man den seelsorgerlichen Aufbau der Pfarrgemeinden im Auge hat, der sich grundsätzlich an den Nöten der anvertrauten Menschen zu orientieren hat“. Da sich dieser Brief auf eine Bitte um die Erklärung des „nihil obstat“ bezüglich einer erbetenen Finanzhilfe von ausländisch-kirchlicher Stelle bezieht, schließt der Bischof: „…müßte die Abundanz solcher Meinungen von anderer Seite her finanziert werden“. Vor dem geschichtlichen Hintergrund muß das wohl heißen, daß man sich vor einer Auseinandersetzung mit den in der österreichischen Kirche recht stark vertretenen „Ewig-Gestrigen“ scheut. In diesem Zusammenhang steht auch, wie im Kirchenkampf, die permanente Besorgnis, deutsche Auseinandersetzungen könnten in Österreich eingeführt werden. So wiederum Sakrausky in einem Interview für „Hervormd Nederland“: „Meinen Sie jedoch auch den Gegensatz (nicht nur Unterschiede zwischen Jung und alt), dann muß ich sagen, daß wir es nicht zu Spannungen kommen lassen. Dazu sind wir zu klein. Sollten sie bestehen, so wurden sie aus der BRD importiert. Namentlich in Deutschland liegt dieses Problem ganz anders. Niemand darf uns jedoch Gegensätze und Ideologien aufdrängen“ (abgedruckt in anstoss 3/1970, S. 12).

In diesem Zusammenhang ist auch immer ein grundsätzliches Unverständnis gegenüber echter Pressefreiheit festzustellen. Dieses Moment spielt gerade in der Auseinandersetzung mit dem Jugendwerk eine große Rolle, das sich ja nicht von vornherein mit dem „anstoss“ identifizieren will, das aber seine Herausgeber-Rolle als Gewähren von Freiheiten sehr ernst nimmt.

Ein weiterer Grund läßt sich ebenfalls literarisch wenig belegen, taucht aber in Gesprächen immer wieder versteckt, seltener offen, auf: ein tiefes Mißtrauen gegen die „Verpackung“ – sicher auch, das Heft soll ja attraktiv sein, man soll Freude beim Lesen haben – sondern vor allem Aussage. Bilder sollen sprechen, Akzente setzen, Fragen stellen. Auch moderne Lyrik oder die Sprach-Bild-Meditationen von Lui Dimanche. Es fällt aber nun auf, daß diese Aussagen nicht verstanden werden, auch nicht von vielen Freunden des „anstoss“. Sieht man ein Bild, wird gefragt: „was bedeutet das?“, es wird also die Frage des Bildungsbürgers vor einem modernen Bild gestellt. Man läßt das Bild nicht sprechen, sondern man verlangt die Zwischenschaltung eines Wortes, einer Erklärung, eines „logischen Zusammenhanges“. D.h. aber auch: man will belehrt werden, anstatt selbst zu finden und zu erfinden. Es sind also Vorurteile im Spiel, die aus der Gesellschaft ausrechend bekannt sind und auf den gleichen geschichtlich-gesellschaftlichen Hintergrund verweisen.

Neue Töne kommen in die Kontroverse durch die veränderte allgemeine gesellschaftliche und kirchliche Situation ins Spiel. Es wurde schon angedeutet, daß sich dadurch auch eine teilweise Frontverschiebung abzuzeichnen beginnt. Die kritisch denkende Jugend äußert sich wesentlich radikaler als früher, greift neue Probleme an. Der „anstoss“ geht hier mit. Dadurch ist ihm übrigens erstmals ein echter Einbruch in wirklich kirchenfremde Gruppen gelungen, die der kritischen Schüler. Das Problem der dritten Welt wird jetzt politischer verstanden und formuliert (Titelbild einer Nummer ist das Photo einer Wandschrift: „Cuba si, Yaniks No“). Das Bundesheer wird kritisiert. Die sozusagen gültige Sexualmoral wird schärfer angegriffen. Es gibt ein Heft mit dem Hauptartikel „Plädoyer für die Moral“ (Titelbild: ein hockendes, nacktes, etwa dreijähriges Mädchen), ein Heft über Pornographie mit der Bildserie eines Babys, das die Schmackhaftigkeit von Pornographie versucht, aber dann desinteressiert zur Flasche greift, ein Titelbild mit einem Halbakt von Haskins, eine Nummer über Rauschgifte.

Die Reaktionen brauchen nicht zitiert zu werden, sie dürften sich kaum von den Reaktionen auf kritische Unternehmen in anderen Kirchen unterscheiden, sind außerdem häufig echt obszön. Die Auseinandersetzung, scheint es, biegt aus der österreichischen Provinz auf weltweite Ebene ein.

Die theologischen Fragen, wie Verkündigung im „anstoss“ geschieht, ob sie überhaupt geschehen soll, inwieweit der „anstoss“ eine „evangelische Jugendzeitschrift“ ist, wurden also im eigentlichen Sinn  nicht gestellt. Der „anstoss“ stellt kirchliche und theologische Probleme zur Diskussion, wirkt kirchenkritisch. Aber damit ist die Frage nicht beantwortet, auch nicht mit der Feststellung, er betreibe „indirekte Verkündigung“, ei9ne Formel, die das Problem doch eher verkürzt als klärt. Stellen wir aber die theologische Frage streng, zeigt sich, daß die Antwort nicht einfach ist.

Inwiefern ist also der „anstoss“ eine „evangelische Zeitschrift“? Zweifellos, das ist das erste, motiviert sich die Zeitschrift als evangelisch. Das zitierte Grundkonzept beinhaltet die Worte: „…muß es Aufgabe eines von Christen herausgegebene und redigierten Blattes sein…“. Dahinter steht das theologische Konzept der „Kirche für andere“, Kirche des Dienstes, der Solidarität mit Menschen und Welt. Das zweite Moment ist, daß Sachgerechtigkeit als Kriterium theologisch motiviert und durchgehalten wird. Sachliche, nicht ideologische („christliche“) Kriterien sollen entscheiden über politische und kulturelle Fragen. Beide Momente, Jugendgerechtigkeit und Sachgerechtigkeit, lassen sich nun zweifellos aus dem Evangelium begründen, ebenso auch der Widerspruch: gegen menschliches Selbstverständnis  wie gegen Sachzwänge. Hier scheint nun die eigentliche theologische Frage zu liegen. Wird „natürliche Theologie“ betrieben, paßt sich die Verkündigung nur dem Zeitgeist an, verliert sich dabei das „Salz“, die Fähigkeit zum Widerspruch? Liegt also nur eine Neuauflage der DC-Theologie vor, gegen die Evangelium und Bekenntnis zu stellen seien? Es sind also Fragen, vor die sich die junge Kirche überall gestellt sieht. Allerdings, mit auffälligen Nuancen, gibt es doch in Österreich unter den Gegnern des „anstoss“ ganz und gar nicht die großen Persönlichkeiten der Bekennenden Kirche, sondern hier wird der DC-Verdacht durchaus von Personen ausgesprochen, die nicht nur damals selbst eher (oder völlig) den DC nahegestanden sind, wie überhaupt die merkwürdige Koalition bestimmter Gruppen der BK mit ihren alten Kontrahenten in der Reaktion auf moderne Erscheinungen auch in Deutschland vorkommt und zu denken gibt. Es muß also offensichtlich präziser formuliert werden, was die eigentliche Streitfrage im Kirchenkampf war, und ob und wie sie wiederkehrt. Das kann hier nur andeutungsweise geschehen: Es ging damals um den vom Evangelium geforderten und in ihm begründeten Widerspruch gegen eine allgemeine, die Gesellschaft umfassende, unreflektierte Identifikation christlicher „Religion“ und gesellschaftlicher Vorurteile. Diese Identifikation besteht heute durchaus noch, wenngleich sie bestimmte manifest pagane Züge zurücktreten ließ und wenn sie nicht mehr auf völkisch-ideologisch-heilsgeschichtlichem Nenner, sondern auf dem Nenner der bürgerlichen Ideologie beruht. Dieser Widerspruch ist durchaus auch heute anzumelden und wird gerade von jener als „modern“, „politisch“ angeprangerten Theologie angemeldet. Darunter auch vom „anstoss“, auch und gerade dann, wenn es sich um den Artikel über Rauschgifte handelt, sofern es dabei um den Widerspruch gegen bestimmte Vorurteile geht. Andererseits scheint es, daß sich die Auseinandersetzung weithin heute eines anderen Stils bedienen muß, nämlich des Dialogs, nicht des eindeutigen bekenntnismäßigen Widerspruchs, weil die anstehenden Fragen komplizierter sind, Entscheidungen weithin erst erarbeitet werden müssen.

Hier scheint nun der eigentliche Grund dafür zu liegen, warum das Urteil, der „anstoss“ sei ja oder nein eine „evangelische Zeitschrift“, nicht leicht fällt: weil dieses Urteil nur Ergebnis einer permanenten, kritischen Auseinandersetzung sein kann, die nicht stattgefunden hat. Das gleiche betrifft ja auch ein anderes Problem: ob nämlich Sachgerechtigkeit, also Objektivität wirklich so möglich ist, wie es zunächst angedeutet wurde. Objektivität kann man sich ja ebenfalls nur im Dialog annähern. In der heutigen Situation, scheint es, kann also eine evangelische Jugendzeitschrift nur Diskussionen provozieren, und nichts anderes tut der „anstoss“. Und die Kirche, die Andersdenkenden, müßten diesen Dialog aufnehmen, wenn es ihnen um die Sache ernst ist. Ein solcher Dialog ist aber unmöglich, wenn die Gegner ihre Meinung als lehramtliche durchsetzen wollen.

„Evangelische Jugendzeitschrift“ ist der „anstoss“ schließlich darin, daß er die Kirche zum Gesprächspartner haben will, daß er sie kritisch begleitet. Er will die „andere Kirche“ repräsentieren. Er will kritisches, selbstkritisches Bewußtsein auch in der Kirche erreichen. Er will mitarbeiten, daß die österreichische evangelische Kirche, die früher nie eine Kirche der Amtsentscheidungen, sondern des freien Gesprächs freier Menschen war, wieder zu dieser Haltung zurückfindet. Wie lange dies allerdings noch möglich sein wird, steht zum Zeitpunkt sehr in Frage. Werbung und Verkauf in den Gemeinden werden weithin verhindert. Freier Verkauf in der Öffentlichkeit bedarf entsprechender Werbemittel, die nicht vorhanden sind. Außerdem wird er immer vor der Barriere stehen, eben eine „kirchliche“ Zeitschrift zu sein. Kirchliche Mittel aus Österreich stehen nicht zur Verfügung, das Jugendwerk verfügt ebenfalls nicht über ausreichende Mittel. Private und ausländisch-kirchliche Geldgeber, die bisher sehr viel zur Finanzierung beigetragen haben, sehen zur weiteren Unterstützung keine Möglichkeit; neue Geldgeber lassen sich, trotz aller Bemühungen, offensichtlich nicht finden. Sollte es tatsächlich 1971 den „anstoss“ nicht mehr geben, war dieser Artikel also nur mehr ein Nachruf, dann ist in Österreich ein entscheidendes Feuer evangelischer Freiheit und christlicher Verantwortlichkeit erloschen.

 


[1] U.a. Neue Züricher Zeitung vom 12.1. 1969, Fernausgabe Nr. 11. S. 54; Die Tat vom 9.11. 1968 S.15.

[2] G. MECENSEFFY: Geschichte des Protestantismus in Österreich. Graz-Köln 2956; G. May – W. KÜHNERT: Die Evangelische Kirche in Österreich. Göttingen 1962.

[3] Wilhelm Dantine durchdachte diese Rolle wiederholt und formulierte von da aus die Funktion einer Minoritätskirche in: Protestantisches Abenteuer in einer nichtprotestantischen Umwelt. In: Protestantismus heute. Hg. V. F.H. Ryssel. S. 56 – 67. Die Stadt auf dem Berge. In: Die evangelische Diaspora. 1967. S.37-56.

[4] Es sind dies die Gruppe um die Universitätsprofessoren Dantine, Fitzer, Lüthi; Kärntner Pfarrer – die erste Superintendenz, in der mehrere hoch qualifizierter Kriegs- und Nachkriegstheologen ins Pfarramt kamen und die am frühesten in den kirchlichen Gremien Fuß fassen konnten-; die Sudentengemeinde und Teile des Jugendwerkes.