„Ski-Segeln“, demonstrierte im Jänner 1938 in St. Moritz, Schweiz.                                  Foto Nationaal Archief, Niederlande.
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Die Erfindung, die ihm am meisten Freude bereitete, war der Thirring-Mantel: eine Art Segel zwischen Armen und Beinen, das beim Skifahren beinahe ein Schwebegefühl auslösen konnte. Bei einer Schussfahrt entfalten die ausgebreiteten Arme das dreieckige Segel, und er schwebte, »vom Fahrtwind getragen, federleicht und sicher den Hang hinunter«. 1939 verfasste er das Buch »Der Schwebelauf«, am 11. Februar 1940 gab es auf der Streif in Kitzbühel ein Schwebelauf-Skirennen. Den etwa 50-jährigen sportlichen Physiker sah man in jenen Jahren oft selbst mit Schwebemantel und ausgebreiteten Armen die Hahnenkammstrecke hinunterrasen.

Seine wichtigste Arbeit aber war die Vorhersage des nach ihm und dem Mathematiker Josef Lense benannten Lense-Thirring-Effekts der allgemeinen Relativitätstheorie. In der Nähe von großen rotierenden Massen ist nach diesem Effekt die Einstein’sche Raumzeit verändert. 2004 scheint dieser Effekt erstmals nachgewiesen worden zu sein – für Nichtphysiker ein Geheimnis, aber nicht das einzige, dem er auf die Spur kommen sollte.

Hans Thirring studierte bis 1910 an der Universität Wien Mathematik und Physik und wurde danach Assistent am Institut für Theoretische Physik der Universität Wien, wo er promovierte.

Von 1921 bis 1927 war er Professor und bis 1938 Vorstand des Instituts. Er erfand eine Methode zur Tonfilmherstellung und -Wiedergabe, die mit Hilfe von Selenzellen – den Thirringschen Selenzellen – funktionierte. 1929 gründete er gemeinsam mit dem Generaldirektor der RAVAGOskar Czeija, die Selenophon Licht- und Tonbildgesellschaft, das erste österreichische Unternehmen zur Herstellung von Tonfilmen. 1938 wurde Thirring von den Nationalsozialisten zwangsbeurlaubt. Vorgeworfen wurde ihm die Beschäftigung mit der »jüdischen« Relativitätstheorie, seine Freundschaft mit Albert Einstein und Sigmund Freud und seine pazifistische und damit »wehrkraftzersetzende« Haltung. Er war bis 1945 als Berater für verschiedene Firmen wie die Elin AG und Siemens tätig. Nach dem Krieg reaktiviert, war er 1946/47 Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien. Er engagierte sich neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit immer wieder für den Frieden. Schon nach dem Ersten Weltkrieg, in dem er technische Geräte betreuen musste, hatte er angewidert erklärt, wenn überhaupt, hätte er lieber auf den sadistischen Feldwebel der eigenen Kompanie geschossen als auf irgendeinen Feind. 1957 war Hans Thirring Mitbegründer der ersten Pugwash-Friedenskonferenz, wo Themen wie die Verantwortung von Wissenschaftlern und die Gefahr der nuklearen Aufrüstung diskutiert wurden.

Politisch war er von 1957 bis 1963 für die SPÖ in den Bundesrat tätig und propagierte die als Thirring-Plan bekannt gewordene Idee der einseitigen Abrüstung Österreichs. Am 12. Dezember 1963 löste er als Bundesrat im Parlament mit diesem »Thirring-Plan« einen Tumult aus. Sein Konzept für das neutrale Österreich enthielt eine komplette Abrüstung und die Auflösung des Bundesheeres, die Grenzen sollten von UNO-Soldaten bewacht werden.

Anfang der zwanziger Jahre begann sich Thirring auf Veranlassung des damaligen Vizepräsidenten der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, des Botanikers Richard Wettstein, mit parapsychologischen Untersuchungen zu beschäftigen. 1927 wurde er zum (Gründungs-) Präsidenten der Österreichischen Gesellschaft für Psychische Forschung (heute Österreichische Gesellschaft für Parapsychologie und Grenzbereiche der Wissenschaften) gewählt. »Wer nicht den Mut hat, sich auslachen zu lassen, ist keine echte Forschernatur«, sagte er einmal. Es sei ein geringeres Unglück, wenn ein paar Gelehrte eine Zeit lang von einem Schwindler gefoppt würden, als wenn sie aus Angst vor einer Blamage ein faszinierendes, bisher unbekanntes Naturphänomen achtlos ignorierten. Mit seiner Arbeit legte Hans Thirring den Grundstein für die Erforschung der Gravitation, die in dieser Tradition bis heute ein Schwerpunkt von Projekten der Universität Wien und der Technischen Universität Wien ist.

Wegen seines Friedensengagements wurde Hans Thirring zweimal für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – aber auch als »Ostspion« diffamiert.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 145-146.