Ich will in diesem Beitrag eine Bewertung der Homosexualität im Licht des Evangeliums versuchen. Vorausschicken möchte ich eine persönliche Erfahrung, eine Erfahrung besonderer Art, die ich heuer am Tag der Priesterweihe – nach der Weihfeier vor dem Dom in Linz – machen durfte. Eine Frau, Mitte 50, kam auf mich zu und sagte: „Sie sind aus St. Georgen. Ich kenne Sie aus dem Fernsehen. Homosexuell – das trauen Sie sich auch noch zu sagen! Die verachte ich!“ Und sie war weg.

Diese Erfahrung spiegelt die immer noch stark verbreitete Einstellung zu Homosexualität und zu homosexuellen Menschen wider. Auch wenn es recht hoffnungsvolle Ansätze zu einer Bewußtseinsänderung gibt – auch in der Kirche –, so erleben doch die gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen immer noch viel Unverständnis, Verachtung und Ausgrenzung. Diese meine Erfahrung, von der ich erzählte, bringt aber auch auf den Punkt, was eine undifferenzierte Übernahme der biblischen Aussagen eben für die betroffenen Menschen bedeutet.

Für die Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität ist zu empfehlen, sich auch in die Situation der betroffenen Menschen hinein zu versetzen, z. B. mit der Frage: „Wie lebt es sich mit so einer Verachtung durch die Gesellschaft?“

Für eine christliche Bewertung der Homosexualität ist geboten, auch die tatsächliche Lebenswirklichkeit der gleichgeschlechtlich empfindenden Menschen einzubeziehen. Eine christliche Bewertung im Sinn des biblisch-jesuanischen Ansatzes muß auch die Betroffenen selber zu Wort kommen lassen. Jesus nimmt die Menschen in ihrer Situation ernst. Er nimmt sie in ihrer persönlichen Lage wahr und läßt sich auch von ihrer Not betreffen.

Das Leben homosexueller Menschen

Die verbreitete Einstellung zur Homosexualität beruht auf viel Unkenntnis. Es gibt wirre Vorstellungen darüber. Die Meinung darüber ist besetzt von vielen Klischees und Vorurteilen, die nicht haltbar sind. Homosexuelle seien pervers. Sie werden noch immer selbstverständlich mit dem sexuellen Mißbrauch Minderjähriger in Zusammenhang gebracht. Entsprechend abfällig wird über sie gesprochen. Man denke nur an die Lesben- und Schwulenwitze.

Bei dieser Einstellung der Gesellschaft sind Menschen (Frauen und Männer), die gleichgeschlechtlich empfinden, gezwungen, ihr wahres Wesen zu verleugnen. Charakteristisch für die Lebenssituation homosexueller Menschen ist, daß sie in Angst leben. Es ist die Angst vor der Ächtung, es ist die Angst vor dem Gespött, es ist die Angst vor der beruflichen Benachteiligung. Ja, es ist die Angst, die Arbeit zu verlieren, besonders auch im kirchlichen Bereich. Diese Angst sitzt ganz tief in älteren homosexuellen Menschen. Viele dieser Menschen stehen unter einem gewaltigen Leidensdruck. Sie leiden unter Schuldgefühlen, weil sie nur die traditionelle abwertende Meinung kennen, die sich auch auf die Bibel beruft. So ist die Gruppe homosexueller Menschen eine mit einem besonders hohen Suizidanteil. Es ist für homosexuelle Menschen aufgrund der diskriminierenden Situation sehr schwer, sich selber überhaupt anzunehmen und zu akzeptieren.

Der Prozeß zur Selbstannahme ist ein mühsamer und schmerzvoller, in dem es viel Angst durchzustehen gilt. Aber Selbstakzeptanz ist ein wesentlicher Schritt, um überhaupt zu einem einigermaßen menschlichen Leben zu finden. Tatsächlich leben die meisten homosexuellen Menschen im Verborgenen. So ist das Ausmaß der Betroffenheit von Menschen und auch die Gewichtigkeit des Themas, letztlich für die Kirche, nicht bewußt. „Ich kenne niemanden, der oder die homosexuell ist“ ist vielfach auch die Reaktion wenn es um dieses Thema geht. Jeder Mensch kennt homosexuelle Menschen, Frauen und Männer, nur weiß er es nicht! Laut Statistik sind 4-6% der Bevölkerung gleichgeschlechtlich orientiert. Manche Fachleute meinen, daß ihr Anteil bis zu 10% erreicht.

Homosexuelle Menschen leben unter uns, in unseren Pfarrgemeinden und in der Kirche. Sie leben aber sehr unauffällig. Sie sind gar nicht so anomal, wie man vielleicht immer meint. Sie leben in allen Schichten der Gesellschaft, in allen Berufen und etwa die Hälfte davon, so sagt uns die Statistik, sind verheiratet. Ein Kollege, ein aufgeschlossener Pfarrer, sagte mir vor kurzem sehr ehrlich: „Ich bin blind in dieser Sache. Ich kenne niemanden, der homosexuell ist.“ Er ist Pfarrer eine Gemeinde mit 5.000 Katholiken, d.h. in seiner Pfarre leben auch einige hundert gleichgeschlechtlich empfindende Menschen. Es ist bezeichnend für die Kirche, daß nicht einmal die Seelsorger diese Menschen kennen. Es ist bezeichnend für die Kirche, daß homosexuelle Menschen sich scheinbar von der Kirche wenig Hilfe und Verständnis erwarten.

Verschiedene Formen der Homosexualität

  • Es gibt eine entwicklungsbedingte Homosexualität in der Pubertät, in der Jugendzeit. In dieser Lebens- und Entwicklungsphase sind gleichgeschlechtliche Freundschaften sehr bedeutsam. Da kommt es gar nicht so selten auch zu sexuellem Kontakt.
  • Dann gibt es die Gelegenheits- oder Nothomosexualität: auf dem Schiff, im Gefängnis, im Krieg.
  • Und es gibt auch die Hemmungshomosexualität, die besagt, daß Männer gegenüber Frauen so gehemmt sind, daß sie nicht fähig sind zur sexuellen Begegnung mit Frauen. Diese Hemmungshomosexualität läßt sich durch Bewußtwerden und durch Therapie lösen.

Bei all diesen Formen handelt es sich nicht um Homosexualität als Veranlagung.

Für unsere Diskussion relevant ist das Schwulsein, das Lesbischsein. Homosexualität als Veranlagung besagt, daß der Mann/die Frau geschlechtlich ausschließlich auf das eigene Geschlecht orientiert ist. Das ganze innere, gefühlsmäßige, erotische Empfinden gilt ausschließlich dem eigenen Geschlecht. Schwulsein, Lesbischsein gehört somit zum Geschöpfsein der betroffenen Menschen. Es macht ihr ganzes Wesen aus und trifft zentral ihre Identität als Menschen. Schwule und lesbische Menschen haben sich ihre Homosexualität nicht ausgesucht. Sie sind es auch nicht durch Verführung geworden, wie immer wieder behauptet wird, sondern sie haben sich schon immer zu ihrem eigenen Geschlecht hingezogen gefühlt. Homosexuellsein ist ihre Natur, auch wenn diese bei vielen erst später bewußt wird. Die Geschlechtsidentität, so sagen uns die Humanwissenschaftler, ist ja schon sehr früh abgeschlossen, schon etwa mit dem sechsten Lebensjahr oder spätestens mit der Pubertät.

Für homosexuelle Menschen gilt es eine Bewertung ihrer Veranlagung zu finden, in der sie sich nicht als anomale Wesen sehen müssen, sondern Geschöpfe Gottes sein dürfen. Wie müssen sich homosexuelle Menschen fühlen, denen immer gesagt wird, „Homosexualität ist widernatürlich, ist in sich in Unordnung, ist pervers und krankhaft“? Homosexualität ist keine Krankheit. Die Verdrängung von Homosexualität macht krank und die gesellschaftliche Situation, in der die Menschen leben, macht krank. Wie sollen sie sich selber sehen: als Mißgeschick Gottes, als defekte Schöpfung? Wer ist verantwortlich dafür, daß es sie gibt? Die Natur ist wesentlich vielschichtiger, als wir oft wahrhaben wollen. Das gilt auch hinsichtlich der Sexualität. Die Natur in bezug auf die Sexualität ist scheinbar die, daß die Mehrheit der Menschen heterosexuell und eine Minderheit gleichgeschlechtlich orientiert ist, so wie die Mehrheit der Menschen Rechtshänder sind und eine Minderheit Linkshänder.

Der Mensch als Person, als Beziehungswesen

Die Bibel spricht vom Menschen als Geschöpf Gottes. Gott hat den Menschen geschaffen als geschlechtliches Wesen, als Mann und Frau. Gott sah, daß es gut war, daß es sehr gut war, heißt es beim Menschen. Das bedeutet: Die Sexualität ist auch Gabe Gottes, Gott hat es so gewollt. Sie ist eine ganz besondere Gabe, die ihren Zweck nicht nur in der Zeugung von Nachkommen hat, sondern sie ist eine Begabung an den Menschen, zum ganzheitlichen Menschsein, zu seinem Glück. Das christlich-biblische Menschenbild spricht von der Person. Personsein meint in Beziehung sein. Der Mensch ist Beziehungswesen, er ist auf Beziehung angelegt, er lebt in Beziehung, er ist Beziehung. Die Sexualität müssen wir in diesem Kontext der Beziehungen sehen.

Wir Menschen sind begabt zur Liebe. Die Sexualität ist eine ganz besondere Sprache des Ausdrucks der Liebe. Wir sind gerufen, die Sexualität als Gabe Gottes, als gute Gabe Gottes an uns Menschen anzunehmen. Ohne diese positive Annahme für sich selber ist geglücktes Leben schwer möglich. Für homosexuell empfindende Menschen ist es aber sehr schwer, die Gabe der Sexualität als gute Gabe anzunehmen, wenn immer argumentiert wird, daß sie widernatürlich und sündhaft sei.

Ich möchte die Frage in den Raum stellen, ob eine Kirche so ganz klar und eindeutig sagen kann, was der Wille Gottes ist, wenn es um die Bedingungen geht, unter welchen der Mensch diese Gabe Gottes auch leben darf. Ich möchte das Buch der Weisheit zitieren: „Welcher Mensch kann Gottes Plan erkennen?“ oder „Wer begreift, was der Herr will?“ (Weish. 9,13). In der Sicht der Bibel ist wohl klar: Wir als glaubende Menschen stehen unter dem Anspruch der Liebe.

Nach dem nordamerikanischen Philosophen und Psychotherapeuten Rolle May ist das Verlangen nach Beziehung, Intimität und Annahme das am stärksten ausgeprägte Bedürfnis des Menschen. Wenn ein Mann eine stark erotische Zuneigung zu einem anderen Mann empfindet, dann erfährt er ein wirklich tiefes Gefühl, das ihm sehr viel über sich selber sagt. Homosexuelle Gefühle berühren wie heterosexuelle Gefühle den Kern des inneren Lebens eines Menschen. Wer vorgibt, sie nicht zu haben, der tut, als könne er ohne Herz leben, sagt Henri Nouwen. In der Sexualität berühren wir das Innerste des Menschen, die Intimität. Intimität ist immer mehr als Sexualität. Sie meint gegenseitige Annahme und Vertrautheit. Intimität will sich aber auch in der sexuellen Begegnung zum Ausdruck bringen.

In der kirchlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Homosexualität spielt die genitale Sexualität eine zentrale Rolle. Kirchliche Stellungsnahmen sind oft so fixiert auf die genitale Sexualität, daß der Blick auf die tiefere Dimension, eben der Sexualität als Ausdruck von personaler Liebe und Hingabe, aus dem Blick gerät. Ich habe daher auch meine Probleme und Schwierigkeiten mit dem Begriff Homosexualität, weil dieser Begriff zu sehr auf die genitale Sexualität einengt.

Homosexualität im Licht der befreienden Botschaft des Evangeliums

Maßstab für die Bewertung von gleichgeschlechtlicher Orientierung und Liebe kann nur das Liebesgebot der Bibel sein. Die befreiende und bejahende Liebe Gottes, wie sie uns in Jesu Handeln ganz konkret begegnet.

Jesus setzt beim Menschen an: in seinem Gebrochensein, in seiner Heilsbedürftigkeit, in tiefer Sehnsucht nach Annahme, Liebe und Glück. Und Jesus bringt den Menschen auch Befreiung von der Knechtung durch ein seelenloses, starres Gesetzesdenken, das den Menschen in seinem Menschsein nicht mehr wahrnimmt. Jesus stellt de Menschen in die Mitte, als Adressaten von Gottes Liebe und Gottes Heil. Jesus verteidigt den Menschen, er nimmt ihn in Schutz gegenüber der Gesetzesfrömmigkeit der Schriftgelehrten seiner Zeit. Klassisches Beispiel dafür ist die Begegnung mit der Sünderin: „Wer ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“ (Joh. 8,7). Bei Jesus haben Gesetze und Gebote keinen Selbstzweck, sie müssen im Dienst des Lebens stehen. Er stellt sie in das Licht der Liebe. Alle Normen und Gesetze müssen Ausfluß des einen Gesetzes – eben der Liebe – sein. Nur so können sie wohl auch den Menschen treffen. „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“ (Mk. 2,27) So bringt es Jesus auf den Punkt. Jesus geht hart ins Gericht mit der Gesetzesfrömmigkeit der Schriftgelehrten. Er entlarvt sie als Selbstgerechtigkeit, als Verstocktheit, als Hartherzigkeit. (vgl. Mt. 23)

Barmherzigkeit ist die Sprache Jesu. „Barmen“ heißt „die Not hinausschreien“. Barmherzig ist der, der diesen Schrei hört und auch reagiert. Ich erinnere an die Begegnung Jesu mit dem blinden Bartimäus. „Hab Erbarmen, Herr!“ ruft dieser Blinde Jesus entgegen (Mk. 10,47). Jesus reagiert, er wendet sich diesem einzelnen Menschen zu. „Was soll ich dir tun?“ ist seine Frage an ihn. Das Handeln Jesu ist geprägt von tiefer Barmherzigkeit, und es spiegelt auch das Erbarmen Gottes gegenüber den Menschen. Im Jakobusbrief können wir lesen: „Denn das Gericht ist erbarmungslos gegen den, der kein Erbarmen gezeigt hat. Barmherzigkeit aber triumphiert über das Gericht.“ (Jak. 2,13) Jesus ist solidarisch mit de Geächteten, mit den Aussätzigen und den Diskriminierten. Er lebt eine ganz klare Option für die Geächteten und Schwachen. „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt. 25,40)

Die kirchliche Verkündigung betont, daß wir gerade im gebrochenen Menschen das Antlitz Gottes erkennen können, den Gekreuzigten. Müßte das nicht auch für die Schwulen und Lesben gelten? Das Evangelium ist liebende Zuwendung Gottes zum Menschen: „Du bist bedingungslos angenommen in deinem ganzen Menschsein. So wie du bist, darfst du vor Gott sein.“ Das Evangelium ist kein moralisches Diktat, sondern Zusage der Liebe. Eine Zusage, die uns wohl ganz in Anspruch nimmt. Diese Zusage gibt uns aber auch Befähigung zur selbstverantwortlichen Gestaltung des Lebens. Wir alle bleiben zurück hinter diesem Anspruch der Liebe, nicht nur in der Frage der Sexualität.

Konsequenzen aus dem biblischen Befund für unsere christlichen Kirchen

Christliche Moral ist dem Evangelium Jesu Christi verpflichtet. Christliche Moral steht unter dem Anspruch der befreiten Liebe Gottes. Die Kirche muß sich selber sehr ernsthaft fragen, ob eine ängstliche Gebots- und Gehorsamsmoral, die vor allem von Sünde spricht, den Blick auf den liebenden und befreienden Gott nicht mehr verdunkelt als ihn eröffnet. Gefragt ist die Sensibilisierung unserer Kirche in bezug auf die Lebenssituation, die vielfacht eine schwere Leidenssituation für den homosexuellen Menschen ist.

Eine dringende pastorale Aufgabe in der Kirche im Sinne Jesu ist es, die Menschen zu befreien von Druck und Angst und sie zu unterstützen auf ihrem schweren Weg der Selbstannahme. Die Frage Jesu an Bartimäus: „Was soll ich dir tun?“ müßte die Kirche zuerst einmal den schwulen und Lesben stellen. Christliche Moral ist gerufen, im Sinne der Option Jesu für die Ausgegrenzten, sich auf deren Seite zu stellen und ganz entschieden gegen jede Diskriminierung und Ächtung aufzutreten. Unsere Kirchen sind gerufen, in der Bewertung der Homosexualität die Barmherzigkeit Gottes in die Mitte zu stellen. Sie müssen selber vor dem Anspruch der Barmherzigkeit Gottes bestehen können, – so formuliert es Wunibald Müller, Theologe und Psychotherapeut, der diese Barmherzigkeit besonders vehement von der Kirche einfordert.

Nur eine Kirche, die beseelt ist vom Geist Jesu, d. h. vom Geist der Liebe, der Achtung und der Barmherzigkeit, wird auch den Menschen gerecht werden und den Schwulen und Lesben Heimat sein können.

Von Franz Benezeder

 

In: Klaus Schacht / Franz Benezeder, „Homosexualität – Ein Greuel für Gott?“ ist in der Reihe „Bibel und Theologie im Kleinformat“ Nr. 25, herausgegeben vom Katholischen Bibelwerk in Linz (s. d.), erschienen.