Calvin
Calvin

Bei der Lektüre des Werkes dieser historischen Figur, aber auch im Lichte der heutigen Geschichtsstudien scheint mir, dass man nur von Jean Calvin sprechen kann, indem man ihn in seinen historischen Kontext zurückversetzt, indem man sich wieder an das Lebensgefühl in Genf mitten im 16. Jahrhundert erinnert.

Anders gesagt, indem man die ständige Furcht vor einem feindlichen Angriff in dieser kleinen Stadt zu spüren versucht, die eingeschlossen ist in ihre Befestigungsmauern, mittelloser als andere Städte wie Lyon, Bern oder Paris, politisch geschwächt und wirtschaftlich zurückgeblieben. Indem man sich den Geschmack der schlechten Gemüsesuppen vorstellt, in denen kaum je Fleisch drin ist, und eines säuerlichen Weins, den man runterschluckt, um sich nicht mit dem ungesunden Seewasser zu vergiften. Indem man den Wind der Bise spürt, der durch die Fenster aus Papier pfeift und indem man ab vier Uhr früh vom ununterbrochenen Lärm immer wieder aus dem Schlaf hochfährt. Indem mand ie Nase rümpft wegen des Gestanks, der durch die Wohnungen weht und seine Ausdünstungen überall verbreitet. Indem man zittert wegen der Gerüchte von Pest, sich schüttelt wegen Fieber oder schreit vor Schmerzen, ohne jedes Mittel, sie zu mildern. Indem man angesichts des allgegenwärtigen Todes weint, der Ehemann, Ehefrau, Kinder, Freunde oder Feinde mit sich reißt! All dies ist Teil der Nüchternheit zur Zeit der Reformation!

Eine Zeit, wo es auf dem Lande noch Hexen gibt, wo fast alle Familien neu zusammengesetzt sind, da man mindestens zweimal in seinem Leben heiratet. Eine Zeit, wo nicht einmal jedes zweite Kind das Erwachsenenalter erreicht. Eine Zeit, wo große Armut und Aberglauben herrscht, wo der Klerus vor seinen Aufgaben kapituliert, wo um Seelen gefeilscht wird und wo man in großer Angst und im Misstrauen der Welt gegenüber lebt. Es ist auch eine Zeit der Extreme: 1548 schreibt Ignatius  von Loyola seine geistlichen Übungen und 1555 Nostradamus seine Prophezeiungen. 1564, das Todesjahr Calvins, ist auch das Todesjahr von Michelangelo und das Geburtsjahr von Shakespeare. Ist denn diese Nüchternheit, mit der man Calvin ausstaffiert, nicht eher die Nüchternheit seiner Zeit? Einer Zeit, die ohne Zweifel die Modernität vorbereitet, selber aber alles anders ist als modern. Einer Zeit des Humanismus, aber auch der Menschen, die für Ideen verbrannt werden, oder schlimmer noch, für einen vagen Zaubertrank, der nur wenig Zauber enthält. Einer Zeit, in der sich neus religiöses Gedankengut verbreitet, begleitet von einer gigantischen Unterdrückung, die – manchmal in einer einzigen Nacht! – Tausende von Toten in ein Furcht einflößendes Jenseits katapultiert.

Peter Karner

Aus: „Ein Tag im Leben Calvins“, Ausstellungskatalog Genf 2009.