»Angst um mich selbst habe ich nicht gehabt«, sagte Schwester Anna-Lena Peterson, »aber viele schlaflose Nächte wegen der Sorgen um die Menschen, die mir anvertraut waren – und auch Angst um sie.« Im Februar 1938 war die Diakonisse Leiterin eines Kinderheims in der Nähe von Göteborg, als sie gefragt wurde, ob sie nach Wien gehen wolle, am 1.Juli 1938 traf sie in Wien ein. Die Aufgabe der Schwedischen Mission bestand damals vor allem darin, Juden und Judenchristen bei der Auswanderung zu helfen. Bei über 3000 Menschen ist dies und damit die Lebensrettung gelungen. Ursprünglich verfolgte die Schwedische Israelmission seit 1921 das Ziel, Jüdinnen und Juden das Evangelium nahezubringen, sie also im klassischen Sinn zu missionieren. Da viele Juden seit dem Beginn des 19.Jahrhunderts in Folge der Assimilierung, des wachsenden Antisemitismus und der Überzeugungskraft des Protestantismus in regelmäßiger Zahl in die Evangelische Kirche übergetreten waren, ging es ab 1921 auch um die Seelsorge an den Judenchristlichen Konvertiten. Die jüdische Gemeinde in Wien allerdings fühlte sich von den missionarischen Aktivitäten bedroht. Dem Leiter der Mission, Emil Weinhausen, gelang es jedoch, Vorwürfe zu entkräften, dass jüdische Kinder zwangsgetauft würden.

1938 hatte sich die Situation drastisch geändert. Die Gottesdienste wurden zu Zusammenkünften von angsterfüllten, entwurzelten, verzweifelten Menschen. Der schwedische Pastor Göte Hedenquist übernahm unter diplomatischer Immunität die Leitung des Hauses, das dann »Schwedische Mission Stockholm, Missonsstation Wien« hieß und auch ein Passamt war. Zu der besonderen Stimmung der Gottesdienste trug einerseits bei, dass jedes Mal eine Reihe von Ausreisenden verabschiedet werden konnte, andererseits eine ständige Überwachung durch die Gestapo stattfand. Jede Woche gehörte es mehrfach zu den Aufgaben der Mitarbeiter in der Seegasse, Auswanderer zur Verabschiedung zum Bahnhof, zum Flugplatz oder zum Schiff zu begleiten. Dies dauerte bis zum Frühjahr 1941 an, als eine neue Phase der Judenverfolgung eintrat: Das Passamt für Juden wurde geschlossen. Damit gab es keine Auswanderung mehr, nur noch Deportationen.

Zwei Erinnerungen sind Schwester Anna-Lena besonders haften geblieben: Die Zeit nach der »Reichskristallnacht«, als etwa 1000 jüdische Männer vor dem Abtransport nach Dachau in einem Reitstall in der Pramergasse in der Nähe eingesperrt waren, und sie versuchte, Kontakt zu den Eingeschlossenen zu bekommen. Oder im Februar 1939, wo es gelang, einen Transport mit 60 judenchristlichen und jüdischen Kindern nach Schweden zu schicken.

Ab Herbst 1939 übernahm Schwester Anna-Lena eine neue Aufgabe, die Leitung des »Schwedenheims« in Weidling bei Wien, das zunächst als Ferienheim gedacht war, bald aber zu einem Altenheim für verfolgte »Nichtarier« wurde. Das Objekt in Weidling/Klosterneuburg, Hauptstraße 156, wurde 1936 von der Schwedischen Israelmission erworben. In diesem Amt kämpfte sie mit den Behörden wegen der diskriminierenden Eintragung der Zwangs-Vornamen für »Nichtarier« – »Israel« bzw. »Sara« – in den Listen, die als Unterlage für die Lebensmittelkarten dienten. Die Haltung der Bevölkerung war unterschiedlich. Als Schwester Anna-Lena einmal über Nacht weg war, fand sie am nächsten Tag die Fensterscheiben der Straßenseite eingeworfen vor – bei ihrer Anwesenheit, meinte sie, hätte man das nicht gewagt. Gegenüber wohnte aber auch ein Gärtnerehepaar, von dem die schwedische Schwester immer wieder heimlich Gemüse und Milch erhielt, zur Aufbesserung der kargen Rationen der Heimbewohner. Der Gemeindepfarrer von Weidling zeigte sich nie im Heim. Dafür veröffentlichte er zum 50. Geburtstag des »Führers« im April 1939 ein langes Gedicht im Evangelischen Gemeindeblatt, das in der Aussage gipfelte: »Wenn Hitler in den Himmel kommt, stehen alle Kinder empfangsbereit, und der liebe Gott beugt sein Haupt.« Der Pfarrer wurde 1945 abgesetzt.

Im Juni 1941 erhielt die Schwedische Israelmission den Befehl zur Einstellung der Arbeit. Pastor Hedenquist machte noch einmal einen Vorstoß bei der Gestapo, aber vergeblich. Das Haus in Weidling konnte noch bis zur Ausweisung der letzten schwedischen Mitarbeiter durch die Gestapo im Oktober 1941 weitergeführt werden. Im Frühjahr 1941 hatten die Deportationen eingesetzt, verstärkt seit dem September. Die Aufforderung, sich bei der Sammelstelle einzufinden, kam per Postkarte. So wurde die tägliche Postverteilung in Weidling zu einer angstvollen Angelegenheit. Als Schwester Anna-Lena zum Passamt ging, um noch einmal eine Verlängerung zu beantragen, schrie sie der Beamte an: »Fahren Sie nach Hause! Wir haben genug von Ihnen!« Da wusste sie, dass es keinen Zweck mehr hatte.

Nach ihrer erzwungenen Rückkehr nach Schweden blieb Schwester Anna-Lena ihrer Aufgabe treu. Von 1942-1945 betreute sie in Malmö Juden, die durch Graf Bernadotte gerettet worden waren. 1945-1946 leitete sie in Mittelschweden ein Jugendheim für Überlebende der KZ, wo diese betreut wurden, bis sie nach Hause konnten. Als sie Anfang 1946 von dem schwedischen Kinderhilfswerk »Rädda Barnen« gefragt wurde, ob sie in dessen Dienst in Wien arbeiten wolle, sagte sie gleich zu. So kam sie im März 1946 wieder nach Wien. 1958 übernahm sie abermals die Leitung des Schwedenheims in Weidling, das in ein Altenwohnheim umgestaltet wurde.

Es ging auch um die soziale Arbeit für die Rückkehrer, die aus vielen Ländern kamen, so aus Syrien, Holland, Schweden, Kalifornien – Christenjuden und Konfessionslose. Die politischen Unruhen – der Ungarnaufstand 1956, der Prager Frühling 1968 – brachten immer wieder neue Flüchtlinge, die Hilfe brauchten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich der judenchristliche Pfarrer Felix Propper kritisch mit dem judenmissionarischen Ansatz auseinander und trat für ein neues Verhältnis zwischen der Evangelischen Kirche A.B. und den Jüdinnen und Juden in Österreich ein. Heute distanzieren sich beide Evangelischen Kirchen aus theologischen Gründen von der Judenmission (Wort der Generalsynode »Zeit zur Umkehr – Die Evangelischen Kirchen in Österreich und die Juden« 1998).

Das Haus in der Seegasse 16 war von 1921 bis 1974 Stützpunkt der Schwedischen Israelmission. Das große Haus mit der schönen Jugendstilfassade trägt immer noch über dem Türsturz die Inschrift »Schwedische Mission«. Eine Tafel weist auf die Messiaskapelle im Erdgeschoß hin, die diesen Namen beibehalten hat, jetzt aber eine eigene Pfarrgemeinde der Evangelisch-Lutherischen Diözese (evangelisch A.B.) geworden ist.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 119-120.