»Als der Zeiger der großen Wanduhr auf punkt 11 Uhr steht, legt er die Kreide aus der Hand. Alle Studenten kennen diese Geste am Schluss der Vorlesung und nur den zunächst Sitzenden scheint es, als ob die Hand für einen Augenblick gezögert hätte, dann eine kurze Verbeugung gegen das Auditorium und Hochstetter hat den Saal verlassen. Sekundenlang ist es ruhig, dann beginnen einzelne auf die Pulte zu klopfen, es werden immer mehr, und schließlich erschüttert zehn Minuten lang dieser akademische Gruß den Saal.« (Große Österreich Illustrierte)

Büste Wilhelm Frast (1954), Aula d. Akad.d.Wissenschaften, Wien.
Aus Wikimedia Commons

Am Abend dieses Abschiedstags von seiner Lehrtätigkeit im Jahr 1932 zogen die Studenten mit einem Fackelzug an seinem Wohnhaus vorbei – eine seltene studentische Ehrung, die das letzte Mal Theodor Billroth erlebt hatte, als er den Ruf nach Berlin abgelehnt hatte. Hochstetter war einer der großen Ärzte der Wiener medizinischen Fakultät und international bekannt. Als Anatom interessierte er sich besonders für die menschliche Entwicklungsgeschichte und sammelte Material, das heute noch weltweit einmalig ist. Forschung und Lehre widmete er seine ganze Energie, seine Schüler nannten sich »Hochstetteriani«. Was war das für eine Schule, die er begründete? Entgegen den Versuchen, Ursache und Wirkung aufeinander zu beziehen und zu großen kausalen Begründungstheorien auszuholen (wie z.B. Roux), lehrte er zu schauen, was sich darstellte. Eine große intellektuelle Bescheidenheit den Wundern der Natur gegenüber schärfte seinen Blick und die Interpretation seines Befundes. Er liebte es zu ergründen, zu analysieren, zu beobachten und nicht vorschnell zu deuten.

Mit akribischer Präzision entwickelte er eine Technik in der Anatomie, deren Endergebnis nachvollziehbare Befunde waren. In Zeiten, in denen genetische Ideologien an der Tagesordnung waren, arbeitete er in einer einzelgängerischen Beharrlichkeit an der Qualitätsentwicklung der Anatomie.

Schon als Gymnasiast sammelte er in seiner Freizeit Mineralien, Pflanzen und Tiere, um sie zu untersuchen. Im Grunde wollte er Zoologe werden und inskribierte nur zusätzlich Medizin. Denn er träumte von Forschungsreisen und davon, dass dann ärztliche Kenntnisse notwendig sein könnten. Aber sein Professor Carl Langer beeindruckte ihn. Er wurde bereits am 1. April 1882 während seines Studiums an der Universität Wien Demonstrator und ab 1884 Assistent Langers am Anatomischen Institut. Der wunderbare und fein austarierte Mechanismus des Körpers faszinierte ihn. Seine Präparate wurden nicht nur von seinen Kollegen bestaunt. Als er 21 Jahre alt war, fragte ihn Langer, ob er Assistent bei ihm werden wolle. Das medizinische Wien war damals am Höhepunkt. »Niemals und von niemandem wurde ja damals die Frage erörtert«, klagte er allerdings, »ob ich mit 700 Gulden Assistentengehalt mein Auslangen finden könne, eine Frage, die natürlich glatt hätte verneint werden müssen.« Das »bescheidene Vermögen« aus dem Erbe seines Vaters und Gönner wie z.B. H.K. Corning, Professor der Anatomie aus Basel, halfen ihm – dieser mit 2000 Franken – bei der notwendigen Erweiterung der Arbeit. Er musste genügend Raum für konservierte Leichen schaffen, da an die 200 bis 300 Studenten ausreichend Material brauchten, um seinen Anforderungen, alle Teile des Körpers beim Sezieren kennenzulernen, entsprechen zu können. Für die »Leichenplanung« musste er eine eigene Logistik für das ganze Jahr entwickeln und Umbaumaßnahmen vornehmen – eine große Managementaufgabe für einen Forscher, der lieber sezierte.

1885 wurde er promoviert und stand von 1887/88 bis zur Berufung Emil Zuckerkandl als Supplent dem I. Anatomischen Institut vor. 1888 habilitierte er sich dort, wurde 1892 außerordentlicher Professor und folgte 1896 einem Ruf als ordentlicher Professor an die Universität Innsbruck. Die Innsbrucker Jahre wurden zu seinen glücklichsten. 1908 kehrte Hochstetter als Vorstand des II. Anatomischen Instituts an die Universität Wien zurück.

Seit 1921 führte er den »Anatomischen Atlas« für Studierende und Ärzte seines Vorgängers auf dem Lehrstuhl, Carl Toldt (1840-1920), weiter. Zu seinen Schülern zählten u. a. die Professoren Eltze, Grosser, Pernkopf, Sankott, Perović, Wittinger, Schmeidel, Ikeda, Taganagi und von Hayek. Der spätere Nobelpreisträger Konrad Lorenz wurde sein Lieblingsschüler.

1925 wurde Hochstetter in die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina gewählt. Nach seiner Emeritierung 1932 widmete er sich in einem Labor der ehemaligen Medizinischen Militärakademie weiterhin seinen Forschungen. Hochstetter befasste sich vor allem mit vergleichender Anatomie und der Entwicklungsgeschichte der großen Gefäße, des Herzens und des Gehirns, arbeitete neue Präparationsmethoden aus und führte die Konservierung durch Paraffindurchtränkung und Chromierung ein. Eine Konsequenz seiner akademischen Bescheidenheit war auch die Ablehnung des Hofrattitels. Es ärgerte ihn, dass dieser auch in der Republik verliehen wurde und dass Professoren ihn annehmen konnten, obwohl kein Hof mehr da war.

Sein protestantischer Widerspruchsgeist zeigte sich in einem Antrag, den er schrieb, damit Professoren den Titel nicht mehr annehmen dürften. Zur selben Zeit wurde er schnell zum Hofrat ernannt. Viele Ehrenmitgliedschaften an Akademien Europas und die Überreichung der Goethe-Medaille 1941 waren Ausdruck für seine Leistungen. In den zwanziger Jahren hatte Hochstetter mit Julius Tandler einen Konflikt, da er nicht akzeptieren wollte, dass sich dieser neben seinem Beruf als Leiter der zweiten Lehrkanzel für Anatomie auch als SPÖ-Politiker engagierte. Das strenge protestantische Arbeitsethos Hofstetters ließ eine Vernachlässigung der akademischen Arbeit, die sich zwangsläufig aus den politischen Ambitionen ergab, nicht zu und er brach mit Tandler, der sein Schüler war.

Niemals war er ein Wiener wie ihn Josef Weinheber zeichnete – Sentimentalität und müde Resignation gingen ihm ab, auch jede Arroganz. Er wanderte oft wochenlang allein z.B. durch ungarische Sumpflandschaften auf der Suche nach den dort heimischen Schildkröten, auch an Schlangen war er immer besonders interessiert. Zwei Sackerln, in denen er die eroberten Funde sammelte, trug er immer mit sich.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 88-90.