Es ist nachgerade genügend bekannt, dass das evangelische Pfarrhaus im deutschen Sprachraum von entscheidender Bedeutung für die Ausbildung und Verbreitung der Kultur und Zivilisation gewesen ist. Wenn auch die österreichischen Beispiele dafür nicht so zahlreich sind, wie anderswo, wo es eine durch Jahrhunderte unverändert gebliebene Tradition des Pfarrhauses mit seinem Bildungsstreben gegeben hat, so kann doch auch darauf hingewiesen werden, daß Söhne aus evangelischen Pfarrhäusern nach Österreich gekommen sind, um hier in verschiedener Weise als Forscher, Künstler oder Wissenschaftler tätig zu sein.

Einer von diesen war der am 26. Dezember 1826 in Aken an der Elbe geborene Theodor Sickel, der später vom Kaiser in den Adelsstand erhoben wurde.

Wie viele seiner Generation kam er während des Studiums in Halle mit demokratisch-revolutionären Gruppen in Berührung, was zunächst die Ausweisung aus der Heimat und trotz der 1850 erfolgten Promotion die Ausschließung von allen weiteren akademischen Möglichkeiten bedeutete. Sickel ging nach Paris und versuchte dann in Wien sesshaft zu werden. Erst nach der 1855 erfolgten politischen Rehabilitierung in Preußen konnte er in Wien an dem damals jungen „Institut für Geschichtsforschung“ seine Tätigkeit beginnen.

Zunächst sah es gar nicht so aus, als ob daraus einmal etwas Besonderes werden könnte. Als Protestanten war Sickel eine Lehrtätigkeit verboten; bei ihm als ehemaligem Revolutionär sah man zudem sorgsam darauf, daß er keine historischen Themen bearbeitete. Nach manchen Mühen durfte er – in einem losen Verhältnis zur Universität – wenigstens Kollegs in den „historischen Hilfswissenschaften“ halten. Und das blieb vorerst auch noch so, als Sickel 1857 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde. Historische Vorträge konnte er nur außerhalb der Universität halten; in derselben blieb es bei Vorlesungen über Handschriftenkunde, Chronologie u.dgl. mehr.

Im Jahre 1861 kündigte Sickel dennoch eine Vorlesung über die Geschichte des 15. Jahrhunderts an, was ihm vom Ministerium untersagt wurde. Trotz der sich daran an-schließenden Diskussion, die auch in der Tagespresse erfolgte, warum denn ein Protestant in Wien keine historischen Vorlesungen halten dürfe, dauerte es etliche Jahre, bis die Sache bereinigt wurde.

Erst im Jahr des Staatsgrundgesetzes, in dem die Freiheit von Forschung und Lehre als Grundrecht postuliert wurde, konnte Sickel – weniger wegen dieser grundsätzlichen Regelungen, denn in Ausnützung eines an ihn ergangenen Rufes an die Universität Tübingen – erreichen, dass er zum ordentlichen Professor ernannt wurde und dass alle Behinderungen seiner Tätigkeit aufhörten. Jetzt erst begann die glänzende Gelehrtenkarriere, die aus Sickel einen der bedeutendsten Historiker des 19. Jahrhunderts überhaupt machte.

Einige Daten sollen das belegen: 1867 wurde er Leiter des Instituts für österreichische Geschichtsforschung, 1870 Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 1872 Dekan der philosophischen Fakultät, 1881 gründete er das Historische Institut in Rom, im selben Jahr wurde er geadelt, 1889 wurde er schließlich in das österreichische Herrenhaus berufen.

Die Organisation der Forschung, die Herausbildung der historischen Methode und eigene Quellenbeherrschung sind die herausragenden Qualitäten der Tätigkeit von Theodor Sickel. Ihm ist es – zusammen mit anderen – auch gelungen, die Öffnung des Vatikanischen Archivs zu erreichen; das war das Ereignis für die Historiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Nunmehr standen ihnen – nicht zuletzt für das Mittelalter – neue, vordem vollkommen unbekannte Quellen in großem Ausmaß zur Verfügung, durch die ein besseres und zutreffenderes Bild des Mittelalters und der Entwicklung Europas gezeichnet werden konnte. Sickel hat an dieser Arbeit führenden Anteil. 1883 konnte er dem Papst seine Untersuchung überreichen, in der er die Echtheit des Privilegs Otto I. für die Kurie vom Jahre 962 beweisen konnte. Bei der Überreichung an Leo XIII. sagte er, dass er diese Untersuchung vorgenommen habe, obschon er Protestant sei.

Und tatsächlich fühlte sich Sickel durchaus als Protestant. Und er hat das nicht nur durch seine Kirchenbesuche, sondern auch durch seine Mitarbeit im Presbyterium der Wiener evangelischen Gemeinde A.B. beweisen. Von 1861 bis 1872 war er Mitglied der Gemeindekörperschaften. Und auch nach 1872, als er wegen seiner steigenden internationalen Verpflichtungen endgültig aus dem Gremium ausschied, hat er noch bei besonderen Gelegenheiten, etwa bei der Besetzung der Direktorsstelle an der Evangelischen Schule in Wien, Aufgaben übernommen.

Seine wissenschaftlichen Untersuchungen galten – von wenigen Ausnahmen abgesehen, zu denen etwa eine Quellenpublikation über das Konzil von Trient zählt – dem Mittelalter, also keiner Periode der reformatorischen Kirchen. In dieser erwähnten Quellenpublikation ging er aber immerhin den Versuchen Kaiser Ferdinands I. nach, auf dem Konzil die Gewährung des „Laienkelches“ und andere Formen des „Entgegenkommens“ gegenüber den Lutheranern zu erlangen.

Dass Sickel nichts publiziert hat, was den Protestantismus unmittelbar betraf, bedeutet freilich nicht, dass er nicht gut über historische, theologische und kirchenrechtliche Fragen der evangelischen Kirche Bescheid gewusst hätte. So hat er etwa im Wiener Presbyterium die Bearbeitung des „Festkalenders“ übernommen, aus dem er sorgsam alle nicht biblischen und katholischen Feste (oder was er darunter verstand) eliminierte. Hand in Hand damit ging sein Engagement bei der Bearbeitung der Gottesdienstordnung. Und als es zwischen der Kirche und dem Ministerium im Gefolge der ersten Generalsynode 1864 zu Konflikten über das Verständnis des Protestantenpatentes und die Freiheit der Synode in der kirchlichen Gesetzgebung kam, hat er mit großer Sachkenntnis in die Gespräche eingegriffen.

So war es kein Wunder, dass Sickel, der immer wieder selbst Initiativen ergriff und diese dann auch – manchmal mit großer Starrheit und Heftigkeit – durchzog, auch zu Aufgaben herangezogen wurde, die über die Gemeinde hinausführten: Er war Mitglied der Seniorratsversammlung und 1867 auch der Superintendentialversammlung, er verfasste 1871 die Jubiläumsadresse der Wiener Gemeinde anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Wiener theologischen Lehranstalt.

Es war nicht leicht, mit ihm auszukommen. Er wusste es wohl auch selbst und hat dann Konsequenzen gezogen, indem er wieder einmal seinen Rücktritt von einer Sache erklärt hat. Aber dabei ist es doch nicht geblieben. Man holte ihn wegen seiner Fähigkeiten doch. Und ertrug dann auch sein schroffes, aufbrausendes und herrisches Wesen.

So hat Sickel dazu beigetragen, dass der Öffentlichkeit in Wien und auch anderswo die Bedeutung des Protestantismus zu Bewusstsein kam. Und das hatte die kleine, bedrängte und unter manchen Mangelerscheinungen leidende evangelische Kirche in Österreich damals noch notwendiger als heute.

Auch darin kann ein Stück Zeugendienst für die eigene Kirche bestehen, und zwar vor allem dann, wenn dies aus einem klaren und eindeutigem evangelischen Bewusstsein heraus gestaltet wird. Sickel zeigt immerhin auch, dass sich evangelisches Bewusstsein nicht unbedingt mit einem antikatholischen Affekt verbinden muss.

Heute wird man sogar sagen müssen, dass es sich ausschließlich ohne eine solche negative Haltung entfalten muss.

 

Gustav Reingrabner: Eine Wolke von Zeugen – Theodor von Sickel
Aus: Glaube und Heimat 1989, S.40-42