Von Gustav REINGRABNER

Die dürren Zahlen und Daten in einem Personalakt, die von dem Leben der Theologin Dora Herrmann, die mit Sebastian Winkler verheiratet war, Kunde geben, bedürfen einer eingehenden Interpretation, damit ermessen werden kann, was es geheißen hat, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Österreich evangelische Theologin zu sein.
Dora Herrmann ist am 10. 1. 1910 in Wien geboren worden. Hier besuchte sie das Realgymnasium und legte 1929 ihre Matura ab. Ihre Kindheit war also erfüllt von der Hunger- und Notzeit in und nach dem Weltkrieg, ihre Matura fiel in jene Zeit, In der der entscheidende wirtschaftliche Aufschwung einer neuen Katastrophe Platz machte, die dann fast nahtlos in das Elend eines zweiten großen Krieges steuerte.
Im Jahre 1928 war es endlich möglich geworden, dass auch an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Wien Frauen studieren durften. Sie waren bei den männlichen Kollegen und bei den Professoren keineswegs beliebt. Von einem langjährigen Professor erzählt man, dass er Frauen im Hörsaal grundsätzlich ignorierte und auch ein „gemischtes“ Auditorium mit „Meine Herren“ anzusprechen pflegte. Vor allem aber war die Berufsaussicht nicht besonders klar, konnten nach der Kirchenverfassung und dem Herkommen doch nur Männer in ein Pfarramt berufen werden. Dennoch entschloss sich Dora Herrmann, neben Germanistik auch evangelische Theologie zu studieren,
Im Jahr 1935 schloss sie dieses Studium mit dem Examen pro candidatura ab, sıe trat dann sogleich in den Schuldienst und unterrichtete Religion an einem Gymnasium im 4. Bezirk.
Dazwischen schrieb sie an ihrer Dissertation über „Religion und Philosophie bei Rainer Maria Rilke“ und wurde 1937 zum Doktor der Theologie promoviert. Sie war damit die erste Frau, die In Wien diesen Titel erwarb; erst im Jahr 1950 folgten dann drei weitere Frauen. Im Jahr 1937 war es aber etwas ganz Besonderes,
Im Jahre 1939 ließ man seitens der Kirchenleitung zu, dass Dora Herrmann das Examen pro ministerio ablegte. Das bedeutete freilich noch lange nicht, dass sie ins geistliche Amt berufen wurde. Eine Ordination durfte noch nicht erfolgen.
Vielmehr gab es staatlicherseits hervorgerufene Schwierigkeiten mit dem Religionsunterricht; Frau Herrmann musste von 1942 ab auf Volks- und Hauptschulen ausweichen, außerdem wurde sie zu verschiedenen Hilfsdiensten in der reformierten Gemeinde Wien-West herangezogen.
Eine entscheidende Wende erfolgte im Jahre 1944. Sie wurde mit ihrem Einverständnis durch den Oberkirchenrat nach Kufstein zugeteilt und übte dort in einem weiten Umkreis die Funktionen eines Geistlichen aus
Voraussetzung dafür war ein Erlass des Oberkirchenrates vom 5. 6. 1942, der die Superintendenten ermächtigte, „den Kandidatinnen der Landeskirche im Falle besonderer Notstände die Predigterlaubnis für Gottesdienste in schlichter Form zu gewähren”. Einige Monate vorher (7. 2. 1942) hatte derselbe Oberkirchenrat eine „Gehaltsordnung für Kandidatinnen der Theologie“ erlassen. Gegen Ende des Krieges fragte freilich niemand nach der „Gestalt“ der Gottesdienste, man war dankbar, dass es überhaupt jemand gab, der in der Lage war, Gottesdienste und Amtshandlungen zu halten. Dr. Herrmann konnte es und tat es – im ganzen östlichen Teil des Landes Tirol. Dazu kamen noch der Religionsunterricht und die Seelsorge, und zwar nicht zuletzt an den Angehörigen der Gefallenen.
Was das bedeutet hat, wird wohl nur der ermessen können, der sich selbst noch an die Verkehrsbedingungen und -verbindungen am Ende des Krieges und unmittelbar danach erinnert.
Der „Dank“ der Kirche an jene Theologinnen, die sich in dieser Weise in den Dienst der Verkündigung stellten, erreichte Frau Herrmann in doppelter Weise. Zunächst wurde sie am 2. 12. 1945 durch Superintendent Wilhelm Mensing-Braun in Kufstein zum geistlichen Amt ordiniert. Eine offizielle Beauftragung sollte es sein, zum Stolperstein wurde es. Der Oberkirchenrat dachte nämlich nicht daran, diese Handlung des Superintendenten (zu der dieser kirchenrechtlich ermächtigt war) anzuerkennen. Vielmehr – und das war die andere Seite – wurde durch den Oberkirchenrat mit Verfügung vom 2. 2. 1946, wirksam mit 31. 3. 1946, der oben zitierte Erlass über die Verwendung von Frauen im Dienst der Verkündigung wieder aufgehoben. Frau Winkler-Herrmann durfte also den Predigtdienst nach 1947 nicht mehr fortsetzen.
Es ist verständlich, dass sie den Dienst der österreichischen Landeskirche verließ. Im benachbarten Bayern fand sie Verwendung als Religionslehrerin. Im Landkreis Rosenheim unterrichtete sie an Volksschulen, an der Berufsschule und am Mädchenrealgymnasium. Sie tat es von 1948 bis 1962.
In der Zwischenzeit war in Österreich doch etwas im Blick auf die Ordination der Frauen in Bewegung gekommen. Derselbe Bischof, der 1946 mitverantwortlich für die Zurücknahme der „kriegsbedingten“ Maßnahme war, brachte nunmehr einen Prozess in Gang, der schrittweise zur völligen rechtlichen Gleichstellung von Männern und Frauen im geistlichen Amt führte. Dora Winkler-Herrmann erlebte am Ende ihres Lebens gerade noch den letzten Schritt: eine zum geistlichen Amt ordinierte Frau durfte wegen einer Eheschließung nicht mehr gekündigt werden, auch verheiratete Frauen waren zur Ordination zuzulassen, wenn sie die sonstigen Voraussetzungen erfüllten, das beschloss 1982 die Generalsynode.
Immerhin aber anerkannte der Oberkirchenrat mit Bescheid vom 3. 11. 1966 die Ordination, die 1945 erfolgt war. Als Pfarrer konnte Dr. Winkler-Herrmann dennoch nicht angestellt werden, war sie doch verheiratet. Sie blieb also in einem „Ruhestand“, der es ihr gestattete, regelmäßige pfarramtliche Vertretungen in Tirol zu übernehmen. Das blieb dann auch nach dem Tod ihres Gatten, der 1978 erfolgte, und nachdem sie übersiedelt war, so. Sie übernahm sogar noch etwas an Religionsunterricht.
Am Abend ihres Lebens anerkannte das Land Tirol durch die Verleihung der Verdienstmedaille ihre Arbeit und ihre Leistungen. Einen Monat danach, am 12. September 1983, ist Dr. Dora Winkler-Herrmann in Zams in Tirol verstorben. Das kirchliche Amtsblatt brachte einen eher kühlen Nachruf, in dem immerhin der Satz „Die Evangelische Kirche in Österreich wird Frau Dr. Dora Winkler-Herrmann über den Tod hinaus ein ehrendes Andenken bewahren“ den Abschluss bildete.
Es wäre jetzt leicht, kritische Fragen zu stellen. Demgegenüber soll vielleicht die Feststellung genügen, dass Krieg, Nachkriegsnot und Unverstand (auch theologischer), mannigfache Rücksichten und zeitbedingte Umstände die Fähigkeiten einer Frau nicht recht haben zur Wirkung kommen lassen, die bereit gewesen ist, Zeugin ihres Herrn Christus zu sein und auch der Kirche des Evangeliums zu dienen. Schuld, Gottes Wille und Zeitverhältnisse – sie alle woben am Teppich des Lebens von Frau Herrmann mit. Es ist an der Zeit, ihr „ein ehrendes Andenken zu bewahren“, und zwar nicht deshalb, weil es gilt, sie zu rühmen, sondern deshalb, weil trotz alledem auch durch sie Gott sein heilsames Werk weitergeführt hat.

 

Aus: Glaube und Heimat 1994, S.46—47