Werner Horn

Vielfalt der Gesangbücher

Wer die evangelische Gesangbuchgeschichte in Österreich seit dem Toleranzpatent studiert, ist zunächst überrascht von der Vielfalt in Gebrauch befindlicher Gesangbücher unmittelbar nach 1781. Diese Feststellung liegt sicher einmal begründet in der Vielsprachigkeit des damaligen Österreich, vor allem aber in seiner besonderen Geschichte. Der durch die Verfolgung der Gegenreformation hindurchgerettete Liedschatz galt als kostbarer, unveräußerlicher Besitz. Dazu traten Sammlungen, die die aus dem Ausland berufenen Geistlichen aus ihrer Heimat mitbrachten. Außerdem erhielt das Toleranzpatent zwar genaue Bestimmungen über das Aussehen und den Standort gottesdienstlicher Gebäude, jedoch keine Verfügung über den Gebrauch einer bestimmten Agende oder eines bestimmten Gesangbuches. So sang man zunächst aus den alten Gesangbüchern weiter, umso mehr, als sich kein kaiserlicher Erlass dagegen aussprach. Im Gegenteil, Joseph II. erlaubte die Beibehaltung der Gesangbücher und die Einfuhr ausländischer, „bis erwiesen wird, dass man innerhalb des Landes selbst die Erfordernis zu verschaffen im Stande sei“. (Hofdekret vom 22. 6. 1782)

So sind damals im Gebiet der alten Donaumonarchie etwa 50 evangelische Gesangbücher verschiedener Sprachen nachweisbar (über 30 deutsche, zwei italienische, die übrigen slawische, meist tschechische). Etliche davon standen freilich meist nicht im offiziellen kirchlichen Gebrauch, sondern wurden für den privaten Bedarf verwendet. Von den deutschsprachigen Gesangbüchern war das Augsburgische, das Bayrische, das Ortenburgische und das Württembergische besonders weit verbreitet.

Natürlich drängte das Konsistorium in Teschen auf eine Verringerung und Vereinheitlichung. Doch die Schwierigkeiten lagen auf der Hand. Misstrauen gegen Neuerungen in den Gemeinden, die unterschiedlichen Bedürfnisse in Stadt und Land, aber auch äußerliche Kriterien wie der Preis und die Lesbarkeit des Druckes machte dieses Unterfangen mühevoll. Dennoch kam es zum Druck und zur Herausgabe einheimischer Gesangbücher. Die Erlaubnis dazu gaben zwei kaiserliche Dekrete vom 2.1.1782 und vom 30.9.1783.

In Wien traten im Bemühen um den Druck eines Gesangbuches die beiden Buchdrucker Trattner und Wucherer auf den Plan. Trattner druckte das Göttingensche Gesangbuch nach als „Neues christliches Gesangbuch nebst einer Anleitung zur Gebetsübung.“

Wucherer ließ sich beim Druck „seines“ Gesangbuches von dem dänischen Gesandtschaftsprediger und späteren Superintendenten, Konsistorialrat und ersten Prediger der Pfarrgemeinde A. C. in Wien, Johann Georg Fock, beraten. Über dieses Gesangbuch soll im Folgenden ausführlich die Rede sein.

Das Gesangbuch von Georg Philipp Wucherer

Christliches Gesangbuch zum Gebrauch der Gemeinen der Augsburgischen Confessionsverwandten in den k.k. Erblanden. Mit Allerhöchster k.k. Erlaubniß zum Druck befördert durch Georg Philipp Wucherer, k.k. priv. Großhändler, Wien, mit von Schönfeldischen Schriften 1783.“ So lautet der Aufdruck auf dem Titelblatt. Es enthält 916 Lieder.

Das Vorwort lässt erkennen, dass es sich hier nicht um ein völlig eigenständiges Gesangbuch handelt, sondern im Wesentlichen um einen Abdruck des Schleswig-Holsteinischen Gesangbuches, das man damals als „das beste und vollständigste“ angesehen hat. Herausgeber des Schleswig-Holsteinischen Gesangbuches war der Kirchenlieddichter Johann Andreas Cramer (1723 bis 1788) aus Jöhstadt bei Annaberg (Sachsen), ein Freund Klopstocks und Gellerts, Hofprediger in Quedlinburg und Kopenhagen, später Superintendent in Lübeck, dann Theologieprofessor und Universitätskanzler in Kiel.

Selbstverständlich atmet dieses Gesangbuch ganz den Geist der Aufklärung, jener Zeit, in der es in der Geschichte des Kirchenliedes zu einer weitgehenden Ausscheidung oder Umdichtung des alten Liedes und zu einer Fülle von Neudichtungen gekommen ist. In falscher Selbsteinschätzung meinte man, dass es sich bei den Umdichtungen immer um Verbesserungen handele. „Die beßten älteren Gesänge sind darinnen verbessert, diejenigen, welche ihrer Bestimmung nicht genug zu thun schienen, mit angemesseneren verwechselt, und viele neue, von den berühmtesten Dichtern mit Fleiß und wahrer Theilnehmung an ihrem Inhalte ausgearbeitete Lieder, besonders über Materien, worüber man noch keine brauchbaren hatte, zu jenen hinzugefüget worden.“

Abänderungen von der Schleswig-Holsteinischen Vorlage und Weglassungen wurden nur da vorgenommen, wo es die österreichischen Verhältnisse notwendig machten. Namentlich wird als Besonderheit die Aufnahme des Toleranzliedes von J.C. Lavater genannt. Dieses Lied (Christliches Gesangbuch … Seite 454/Scan 476) hat zwanzig Strophen und wurde bei der Einweihung der Lutherischen Stadtkirche in Wien im Jahre 1783 gesungen.

Dem Inhaltsverzeichnis des Gesangbuches sind „die Hauptlehren der christlichen Religion, nach welchen die Lieder dieser Sammlung geordnet sind“, vorangestellt. Die Gliederung besteht in den „Lehren des christlichen Glaubens“ und in den „Lehren von den Pflichten der Christen“. Das Gesangbuch ist also nicht am Kirchenjahr oder dem sonntäglichen Gottesdienst orientiert, sondern nach dogmatischen und ethischen Gesichtspunkten gegliedert. Von den drei „Abteilungen“ beinhaltet die erste sogenannte „Zeitlieder“ (Morgenlieder, Tischlieder, Abendlieder, Sonntagslieder, Zum Anfang des Kirchenjahres, Neujahrslieder). Die zweite „Abteilung“ enthält „Lieder über die Lehren des christlichen Glaubens“. In 16 Unterteilungen sind Lieder zu finden:

      1. Von der Erkenntnis Gottes überhaupt, von ihrem Nutzen und von den Mitteln dazu.
      2. Von Gott selbst und von seinen Eigenschaften.
      3. Von der göttlichen Dreieinigkeit.
      4. Von der Schöpfung.
      5. Von der Vorsehung und Regierung Gottes.
      6. Von der Unschuld der ersten Menschen, von ihrem Fall und den Folgen desselben.
      7. Von der Gnade Gottes gegen die sündigen Menschen und seinem ewigen Ratschluß über ihre Erlösung.
      8. Von den Vorbereitungen und Anstalten Gottes seit dem Fall, zur Erlösung der Menschen, nach der Geschichte der Heiligen Schrift.
      9. Von Jesu Christo, dem Erlöser der Menschen, und von seiner Erniedrigung.
      10. Von Jesu Christo, dem Erlöser der Menschen, und von seiner Erhöhung.
      11. Vom Heiligen Geist und der Heilung.
      12. Von den Gnadenmitteln.
      13. Von der Buße und dem Glauben.
      14. Von der christlichen Kirche.
      15. Von den Wohltaten Gottes, deren sich wahre Christen zu erfreuen haben.
      16. Von den zukünftigen Dingen.

Die dritte „Abteilung“ schließlich trägt die Überschrift „Lieder über die Tugendlehren des Christentums“ und umfasst lediglich sieben Untergliederungen mit folgenden Themen:

      1. Von der christlichen Tugend und Gottseligkeit überhaupt.
      2. Von unseren Pflichten gegen Gott.
      3. Von unseren Pflichten gegen uns selbst.
      4. Von unseren Pflichten gegen den Nächsten.
      5. Von unseren Pflichten in allen Gesellschaften, besonderen Zeiten, Lebensarten und Umständen. Lieder für die christlichen Stände.
      6. Über das Wachstum und die Beständigkeit wahrer Christen im Glauben und in der Gottlosigkeit.
      7. Von der christlichen Vorbereitung zum Tod und dessen getroster Erwartung.

Das Gesangbuch hat keine Noten. Lediglich Angaben über die Melodie, nach der das jeweilige Lied zu singen ist, werden gemacht. Auch fehlen Angaben über Textdichter und Melodisten der Lieder.

Wie unser Kirchengesangbuch sollte dieses Gesangbuch von Wucherer nicht nur ein Liederbuch sein, sondern auch ein Gebet- und Lehrbuch. Es folgt daher dem umfangreichen Liedteil noch eine Sammlung von Bibelsprüchen und Gebeten sowie die Leidensgeschichte Christi in Form einer Evangelienharmonie. Eigentümlich ist vor allem die Aufnahme des Passionsberichtes, aber man folgte hier dem Beispiel des Berliner Gesangbuches.

Die Anschaffung des von Wucherer gedruckten Gesangbuches wurde vom Konsistorium den Gemeinden empfohlen. In etlichen Gemeinden, vor allem in Kärnten, wurde es auch eingeführt. Aber früh schon kam es bei Pfarrern und Gemeinden auch zu Klagen über dieses neue Gesangbuch oder die beabsichtigte Einführung. Die alten Lieder hatte man auswendig gekonnt, die neuen müsse man erst lernen. Kein Doktor, sondern ein Kaufmann habe es gemacht. Es handle sich um lauter „erdichtete“ Lieder. Es seien katholische, ja heidnische Lieder in diesem Gesangbuch zu finden, aber es fehlten bestimmte Lieder zu den Evangelien und Sonntagen des Kirchenjahres. Das waren die wichtigsten Gegenargumente.

Vor allem in den oberösterreichischen Gemeinden kam es zu heftigen Widerständen gegen die Einführung des Wuchererschen Gesangbuches.

Der Verleger Wucherer, der in katholischen Kreisen, aber durch den Druck von Schmähschriften gegen den Kaiser auch bei Verehrern des Toleranzkaisers nicht gut angeschrieben war, ließ schon 1789 einen Auszug für ländliche und ärmere Gemeinden erscheinen, der – vom Konsistorium genehmigt – dank des geringen Preises schließlich in den meisten Gemeinden Oberösterreichs, der Steiermark und Kärntens Eingang fand.

Wucherer ist es gelungen, beim Druck des Gesangbuches ein älteres Unternehmen zu verdrängen. Ursprünglich nämlich hatte sich das Konsistorium an den Drucker Kurzbeck (Joseph von Kurzböck) in Wien gewendet. Sein Gesangbuch erschien auch 1783 als „Neues Gesangbuch für die evangelisch-deutschen Gemeinden in den k.k. Erblanden, aus dem Berliner, Brünnischen und Holsteinischen zusammengestellt von Konsistorialrat Fröhlich.“ Die Herausgabe hinkte jedoch hinter der Wucherers her. Trotz des Versuches, wenigstens in den Provinzen noch anzukommen, kam das Gesangbuch jedoch über Schlesien und Mähren nicht hinaus. Das Konsistorium versuchte alles, um diesem Buch zum Durchbruch zu verhelfen, aber ohne Erfolg.

Das Gesangbuch von Johann Wächter

Nachdem Ende des 18. Jahrhunderts die beiden Ausgaben Wucherers vergriffen waren, übertrug das Konsistorium dem Konsistorialrat und Superintendenten von Nieder- und Innerösterreich, Johann Wächter, die Besorgung einer neuen Auflage. Dabei sollte sich Wächter mit den anderen Superintendenten, Senioren und Pfarrern darüber beraten, welche Änderungen etwa vorzunehmen seien. Wächter legte schließlich wieder das Schleswig-Holsteinische Gesangbuch durch die Aufnahme von etwa 400 Liedern aus diesem zugrunde. Diesen fügte er 200 weitere Lieder aus 50 älteren und neueren Sammlungen hinzu, darunter stammten sechs von ihm selbst. Im Jahre 1810 erschien bei Karl Schaumburg & Co. in Wien das „Christliche Gesangbuch zum Gebrauch bey dem öffentlichen Gottesdienste der evangelischen Gemeinden in den k.k. Deutschen und Galizischen Erblanden„. Eine zweite Auflage kam 1826, eine dritte 1845 heraus.

Grundsatz für dieses Gesangbuch sollte möglichste Reichhaltigkeit und die Benützbarkeit für jeden Bildungsstand sein. War man auch mit Änderungen gegenüber den älteren Liedern vorsichtiger, so fehlt es doch auch in diesem Gesangbuch nicht an gewissen Verballhornungen. Die zweite und dritte Auflage blieb bis auf die Ergänzung und Berichtigung der Verfassernamen unverändert.

Geplant war auch die Herausgabe eines „compendiöseren geistlichen Liederbuches“, also einer kleinen Ausgabe zu einem geringeren Preis für weniger bemittelte Gemeinden. Doch es kam aufgrund des frühen Todes von Wächter nicht mehr dazu.

Das Gesangbuch von Jakob Glatz

Deshalb wurde sein Amtskollege, der Konsistorialrat Jakob Glatz mit diesem Auftrag betraut, und zwar unter Zugrundelegung jener Ausgabe von Wucherer aus dem Jahre 1789.

1828 erschein in Wien im Verlag J. G. Heubner sein „Evangelisch-christliches Gesangbuch oder Sammlung geistlicher Lieder bey dem öffentlichen und häuslichen Gottesdienste evangelischer Gemeinden. Nebst einem Anhange von Gebethen und einer kurzgefassten Erzählung von der Zerstörung Jerusalems“.

Das Gesangbuch zählt 515 Lieder, also wesentlich weniger als das von Wucherer. Wie bei dem Gesangbuch von Wächter sind auch hier etwa 400 Lieder aus dem Schleswig-Holsteinischen Gesangbuch übernommen, d.h. also aus dem Gesangbuch von Wucherer beibehalten worden. Auch die Anordnung und Reihenfolge der Lieder sind bis auf wenige Veränderungen geblieben. Über 100 Lieder sind sodann dazugekommen. Auffallend ist, dass das Gesangbuch im Anschluss an den Liedteil außer Gebeten zum Gottesdienst und zur häuslichen Andacht auch eine „kurzgefaßte Erzählung von der Zerstörung Jerusalems“ enthält.

Nach wie vor ist das Gesangbuch ohne Noten. Jedoch wird nach jedem Lied eine Angabe über den jeweiligen Dichter gemacht. Außerdem sind Kurzbiographien aller Liederdichter enthalten.

Obwohl durch das neue Gesangbuch das größere und kleinere Gesangbuch Wucherers nicht verdrängt werden sollte, ermunterte das Konsistorium zur Annahme, „da es höchste Zeit ist, auf eine größere Übereinstimmung hinsichtlich des Kirchengesanges mit allem Ernste hinzuarbeiten, und da die Importation auswärtiger Gesangbücher nicht weiter geduldet werden kann, auch auf die Beseitigung aller mit Grund zu beanständenden Liedersammlungen gedrungen werden wird, besonders wenn ihre Einführung ohne die erforderliche Konsistorialgenehmigung geschehen sollte.“

Schon 1829 erschien die zweite Auflage, eine dritte und letzte 1844. Glatz hatte noch vor, ein „kompendiöses und wohlfeiles“ Schulgesangbuch herauszubringen, aber er konnte dieses Vorhaben nicht mehr verwirklichen.

Als das Konsistorium 1847 einen Anhang zu den Gesangbüchern von Wächter und Glatz herausbringen wollte, äußerten viele Pfarrer und Gemeinden ihre Unzufriedenheit und ihre Bedenken gegen die vielen „kalten, trockenen und zu wenig geistreichen“ Lieder. Immer stärker wurde der Wunsch nach einem Gesangbuch, in welchem nicht viele, aber glaubensstarke Lieder zu finden sind und aus welchem das Volk „Erbauung, Trost und Hoffnung“ schöpfen könnte. Man wünschte sich mehr Lieder von Luther, Gerhardt, Rinckart, Speratus oder Neander. Zwar waren diese Dichter auch in den Aufklärungsgesangbüchern vertreten, aber ihre Texte waren doch sehr stark verändert und entstellt worden.

Das Gesangbuch von Jakob Ernst Koch

Ein eigenes „Christliches Gesangbuch für die Gemeinden der evangelischen Kirche Aug. Conf. in Oberösterreich und Obersteiermark“ brachten 1856 auf Bewilligung des Konsistoriums im Verlag der Sebaldschen Buchdruckerei in Nürnberg der Pfarrer von Wallern und Senior von Oberösterreich, Jakob Ernst Koch, und der Pfarrer von Schladming und Senior der Steiermark, Eduard Mücke, heraus. Zur Grundlage wurde dabei das Gesangbuch der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern genommen, es sollten lediglich in einem Anhang etliche Lieder, die den Gemeinden durch langjährigen Gebrauch unentbehrlich geworden sind, Aufnahme finden. Das Konsistorium traf jedoch die Anordnung, dass die für den Anhang bestimmten 88 Lieder bei jeder Rubrik an geeigneter Stelle eingefügt und mit einem Sternchen kenntlich gemacht werden.

Der Unterschied zu den Gesangbüchern der Aufklärungszeit wird dadurch deutlich, dass dieses Buch wieder stärker am Gottesdienst und am Kirchenjahr ausgerichtet ist. Die sechs Abteilungen tragen folgende Überschriften:

      1. Allgemeine Gesänge für den öffentlichen Gottesdienst;
      2. Hohe Fest- und Feiertagslieder;
      3. Kirchliche Handlungen;
      4. Der christliche Glauben;
      5. Das christliche Leben;
      6. Von den letzten Dingen.

Das erste Lied ist das Tedeum („Herr Gott, dich loben wir“). Außer den 655 Liedern enthält das Gesangbuch noch einen Anhang mit Gebeten zu verschiedenen Zeiten und Anlässen, welche mit Ausnahme der Sterbegebete sämtlich aus Habermanns Gebetbuch entnommen sind.

Das Gesangbuch für die Evangelische Kirche A.B. in Österreich

Immer stärker wurde der Wunsch nach einem einheitlichen Gesangbuch für die gesamte Evangelische Kirche in Österreich. Denn immer mehr wurde es auch in den einzelnen Gemeinden als Mangel empfunden, dass aus verschiedenen Gesangbüchern gesungen wurde.

So betraute die 8. Generalsynode Augsburgischen Bekenntnisses einen Ausschuss mit der Aufgabe, bis zur nächsten Synode den Entwurf eines einheitlichen Gesangbuches zu erarbeiten. Nach sechsjähriger Arbeit hat der Gesangbuchausschuss 1914 sein Ergebnis vorgelegt.

Das 563 Lieder umfassende Gesangbuch hat folgenden Aufbau:

      1. Das Kirchenjahr;
      2. Besondere Texte;
      3. Kirchliche Handlungen;
      4. Tages- und Jahreszeiten;
      5. Das Christenleben
        (Die Christenheit –
        Das Christenhaus –
        Das Christenherz –
        Die Christenhoffnung im Tode).

Dem Gesangbuch fehlen weiterhin Noten. Die Melodie des Liedes sowie der Textdichter mit Geburts- und Sterbejahr sind angegeben. Der Anhang enthält ein Verzeichnis der Liederdichter, Gebete, die Schriftabschnitte der einzelnen Sonntage sowie Luthers Kleinen Katechismus.

Beim Entwurf des Gesangbuches wollte man Altes bewahren, „wenn irgend tunlich in seiner ursprünglichen Kraft und zuweilen herben Schönheit“, aber auch bewusst Neues aufnehmen. Die in den Gemeinden heimisch gewordenen volkstümlichen geistlichen Lieder wurden dabei nicht in einen Anhang verbannt, sondern unter die entsprechende Rubrik eingereiht, jedoch ohne mit den anderen vermischt zu werden. Ein Strich kennzeichnet unter den jeweiligen gemeinsamen Überschriften den Unterschied zwischen beiden.

Der Krieg und danach der Zerfall der Monarchie verhinderten zunächst die Einführung dieses Gesangbuches. Erst 1921 konnte „gleichsam als Festgabe für unsere Kirche“ anlässlich der Vierhundertjahrfeier des Auftretens Luthers auf dem Wormser Reichstag das neue Gesangbuch erscheinen. Vor der Drucklegung bei Carl Fromme in Wien wurde der Entwurf nochmals überprüft und bearbeitet. Einige Lieder wurden ausgetauscht, im Anhang wurden die Gebete vermehrt und „Worte der Heiligen Schrift für das Christenleben“ sowie das Augsburgische Bekenntnis hinzugefügt.

Acht unveränderte Auflagen ließen dieses erste gemeinsame Gesangbuch in den Gemeinden heimisch werden, bis es 1960 vom „Evangelischen Kirchengesangbuch“ abgelöst wurde. Vierzig Jahre hat dieses Gesangbuch als gemeinsames Band der österreichischen Gemeinden viele Menschen auf ihrem Weg als evangelische Christen begleitet.

140 Jahre hat es gedauert, bis es zu diesem einheitlichen Gesangbuch für die Evangelische Kirche in Österreich gekommen ist. Freilich – diese Evangelische Kirche in Österreich ist in der Zwischenzeit auch kleiner und einheitlicher geworden.

Das Evangelische Kirchengesangbuch für die Evangelische Kirche Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses in Österreich

Die ökumenische Bewegung brachte es mit sich, dass auch die evangelische Christenheit aus aller Zersplitterung immer stärker zueinander geführt wurde. Das musste sich auch auf das gemeinsame Singen auswirken. So ist in Deutschland 1950 anstelle vieler landeskirchlicher Gesangbücher das „Evangelische Kirchengesangbuch“ getreten, das die Kirche der Reformation deutscher Zunge in die Lage versetzen sollte, Gott „mit einem Munde“ zu loben und zu preisen. Zehn Jahre später hat auch unsere Kirche aus diesem Buch in seinem ersten Teil mit 394 Liedern diesen gemeinsamen Grundstock übernommen, während der zweite Teil mit weiteren 130 Liedern die besonderen Lieder unserer österreichischen Kirche enthält. Der dritte Teil beinhaltet die Präambel unserer Kirchenverfassung, Gebete für verschiedene Anlässe, eine Bibelleseordnung und Teile der Bekenntnisschriften beider Kirchen (Kleiner Katechismus, Augsburgisches Bekenntnis, Heidelberger Katechismus). Beigaben wie ein Verzeichnis über die Verfasser der Texte und Weisen, eine Kurzgeschichte des Kirchenliedes und Luthers Vorwort zum Babstschen Gesangbuch 1545 bilden den vierten Teil. Der Liederteil ist in vier Rubriken gegliedert:

      1. Lieder zum Kirchenjahr;
      2. Lieder zum Gottesdienst;
      3. Psalmen, Bitt- und Lobgesänge für jede Zeit;
      4. Lieder für besondere Zeiten und Anlässe,

Die ökumenische Besonderheit dieses Gesangbuches ist es, dass es uns nicht nur mit anderen evangelischen Kirchen des deutschen Sprachraumes verbindet, sondern dass hier zum ersten Mal ein Gesangbuch entstanden ist, das beiden evangelischen Bekenntnissen in Österreich dient und diese beiden in der Geschichte zusammengeführten Kirchen auch zu einem stärkeren gemeinsamen Singen befähigt hat.

Von Bedeutung ist die siebente Auflage dieses Gesangbuches (1980). Der Druck erfolgte nunmehr in einer vor allem für die Jugend leichter lesbaren Schrift (Antiqua). Änderungen im Wortlaut der Lieder wurden nur sehr behutsam angebracht, damit eine Verwendung mit den früheren Auflagen ohne weiters möglich ist.

Inzwischen bereiten die Gesangbuchausschüsse wieder ein neues Gesangbuch vor Wann es erscheinen wird, ist ungewiss. Aber die Arbeit am Gesangbuch ist eine ständige Aufgabe der Kirche. Noch stärker als bisher soll in diesem neben dem Grundstock bewährter Lieder verschiedener Epochen das Lied unseres Jahrhunderts und das Lied der Ökumene Aufnahme finden.

Gültigkeit hat und Aufgabe bleibt, was eins Bischof D. Gerhard May 1946 in seinem Vorwort zur fünften Auflage des Gesangbuches für die Evangelische Kirche A.B. in Österreich geschrieben hat: „Wir wollen immer mehr eine singende Kirche werden, die in ihren Liedern Gott lobt, preist und anbetet. Neben der Bibel ist das Gesangbuch unser wichtigstes Bekenntnis- und Erbauungsbuch. In ihren Liedern bekennt die Gemeinde ihren Glauben. Singend, betend und bekennend werden wir Gemeinde. Singend, betend und bekennend sind wir Kirche.“

 

In: Glaube und Heimat 1986. Evangelischer Kalender für Österreich, 40. Jahrgang. Seite 69 – 76.