Sie war eine Revolutionärin mit »elfengleichen« Schritten, eine Reformerin der Tanzkunst. Das klassische Ballett wurde durch sie weiterentwickelt, der moderne Ausdruckstanz geboren. Am Beginn des 20.Jahrhunderts, als weltweit neue Ausdrucksformen bewusst gegen die Tradition des klassischen Balletts erprobt und entwickelt wurden, war Grete Wiesenthal in Wien eine der wichtigsten Vertreterinnen des modernen Ausdruckstanzes. Mit dem Walzer – Inbegriff der Revolution und Symbol des bürgerlichen Prinzips der »egalite« – und im Zusammenwirken mit den Secessionisten feierte sie internationale Erfolge und prägte die Tanzkunst in Wien nachhaltig.

Mit zehn Jahren wurde sie 1895 in die Ballettschule der damaligen Wiener Hofoper aufgenommen, wo sie klassisches Ballett studierte. Gustav Mahler entdeckte ihr Talent und gab der 17-Jährigen die Titelrolle in »Die Stumme von Portici«. Wegen einer Auseinandersetzung mit dem Ballettmeister verließ sie trotz großer Erfolge die Oper und machte sich gemeinsam mit ihren Schwestern Elsa und Bertha selbständig. Am 14.Jänner 1908 debütierten die Schwestern sehr erfolgreich mit Tänzen, u.a. dem »Donauwalzer«, im Wiener »Kabarett Fledermaus« vor einem prominenten Publikum. Das 1907 von Josef Hoffmann und der Wiener Werkstätte  fertiggestellte »Kabarett Fledermaus« war das erste Gesamtkunstwerk der Wiener Werkstätten.

Bald folgten Gastspielreisen nach Berlin, St. Petersburg, Budapest und Prag. Sie arbeitete für Hugo von Hofmannsthal sowie Max Reinhardt.

Hofmannsthal schrieb für sie »Amor und Psyche« und »Das fremde Mädchen«. 1913 begann eine neue Karriere beim Stummfilm. Grete Wiesenthal gründete eine erfolgreiche Tanzschule, 1920 gab sie ihr Debüt als Schauspielerin und machte eine große Europatournee. Ab 1926 inszenierte sie Ballette an der Staatsoper und ab 1934 hatte sie einen Lehrauftrag an der damaligen Akademie für Musik und darstellende Kunst. Ihr Salon war wie der Berta Zuckerkandis oder Alma Mahler-Werfels eine »weibliche Gegenöffentlichkeit«, die sich um die Einladende gruppierte, kultureller und politischer Diskussionsort und geistiges Zentrum. Die Adresse Am Modenapark Nr. 6 im 3. Bezirk war von 1930 bis 1960 ein Ort, der weltanschauliche Geborgenheit, Zuflucht für das freie Gespräch und vertrauenerweckende Intimität zu bieten hatte.

Der repräsentable Wohnsitz war von dem Architekten Otto Niedermoser eingerichtet, mit einem großen Salon, dessen eine Wand eine biblische Szene des Malers und Freundes des Hauses Wilhelm Müller-Hoffmann schmückte. Die Hausfrau saß in einem hohen Lehnstuhl, in einem Halbrund nahmen die Gäste Platz. Sie hatte eine besondere Art von Religiosität, die mit ihrem freien undogmatischen Denken in Spannung stand. Goethe beeinflusste ihr Denken am meisten. Eine ungeschriebene Hausordnung gebot, sich dem von der Hausfrau vorgegebenem Stil einer »duldsamen Gesprächsführung« anzupassen.

Zum Verwandtschaftsclan der Familie Lang, dem sie nach ihrer Heirat angehörte, zählten die Barone Schey, die durch ihr großzügiges Mäzenatentum bekannte Juweliersfamilie Köchert, die u.a. den Komponisten Hugo Wolf und den Dichter Richard Billinger unter ihre fördernden Fittiche nahm, ebenso Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Alexander Schröder, Max Mell, Franz Theodor Csokor, Felix Braun, Carl Zuckmayer und Rudolf Kassner.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde Grete Wiesenthals Salon zu einem getarnten Zentrum oppositioneller Aktivitäten, einem Refugium für Verfolgte und Gefährdete. Am Ausgang seines Lebens fand Gerhart Hauptmann, bedrängt von Altersmüdigkeit und Krieg, im Wiener Haus Wiesenthal Zuflucht und Geborgenheit. Nach dem Krieg leistete Grete Wiesenthal wieder Vernetzungsarbeit für interessierte, unterschiedliche Menschen und Heimkehrer aus dem Exil. Viele wollten dem spirituellen Leben Wiens wieder neue Impulse geben. Zu den alten Freunden, die den Krieg überlebt hatten, stießen Friedrich Heer, Leo Gabriel, Otto Mauer, Otto Schulmeister, Egon Seefehlner, Franz Salmhofer, Heimito von Doderer, Egon Hilbert, Toni Birkmeyer, Gundi und Lisi Krippel, Käthe Gold, Aenne Michalsky und Imma von Bodmershof.

Ihre künstlerische Karriere konnte sie ebenfalls fortsetzen. Ab 1947 war sie mit ihrer Tanzgruppe fast ständig auf Reisen. Neben Gastspielen in ganz Österreich tanzte sie mit großem Erfolg in Belgien, Brasilien, Dänemark, den USA und Westdeutschland. Von 1945 bis 1959 war sie Choreografin bei den Salzburger Festspielen.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 153-154.