Tuschezeichnung von Ludwig Krones, 1836.
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Nannette Stein (eigentl. Maria Anna Stein, geboren am 2. Jänner 1769 in Augsburg; gestorben am 16. Jänner 1833 in Wien) war als Tochter des berühmten Klavier- und Orgelbauers Johann Andreas Stein in Augsburg Mitarbeiterin ihres Vaters geworden und dadurch mit allen Einzelheiten des Klavierbaus vertraut. Ihre Klavierfabrik wurde unter dem Namen »Nannette Streicher, nee Stein« bald zu einer der bedeutendsten Erzeugungsstätten Wiens und auch international bekannt. Außerdem war sie eine berühmte Pianistin und Sängerin, die auch mit Ludwig van Beethovens befreundet war, ihm bei der Wohnungssuche in der Landstraße half und später beim Sterben begleitete. 1794 übersiedelte sie mit ihrem Gatten Andreas Streicher, den sie 1793 geheiratet hatte, und ihrem Bruder Matthäus Andreas Stein (1776-1842) nach Wien. Das gesamte Fabrikszubehör der Klavierfabrik Stein wurde mit einem Donaufloß nach Wien befördert. 1794 wurde die Bewilligung zur Niederlassung in Wien und zur Erzeugung von Instrumenten per Hofdekret genehmigt und daraufhin die Firma »Frère et sœur Stein« im dritten Bezirk gegründet. 1802 löste sie die Verbindung mit ihrem Bruder und übersiedelte mit ihrem Mann Andreas Streicher in das »Haus zum Hl. Florian« (Alter Streicherhof). Über Fürsprache Streichers erhielt Nannettes Bruder eine eigene Konzession und eröffnete auf der Wieden einen eigenen Betrieb. Nannette war auch als Kunstsammlerin bekannt.

Andreas Streicher war der Erfinder der Wiener Mechanik des Hammerklaviers, des »Hammerschlags von oben«. Bei den sonntäglichen Matineen bei Nannette und Andreas Streicher, zu denen Adelige und Bürger geladen wurden, kam es u.a. zur Aufführung der jeweils neuesten Hammerklavierwerke Beethovens. Unter den Interpreten und Zuhörern befanden sich häufig Erzherzog Rudolf, Beethoven, Salieri und Czerny. 1812 ließ Streicher einen Saal errichten, der sich zu einem der beliebtesten Konzertsäle für Kammermusik und Solisten entwickelte, und das Haus Streichers zu einem Zentrum des Wiener Musiklebens im Vormärz werden ließ. Der Saal wurde mit Beethovens Coriolan-Ouvertüre eröffnet. Zu den Mitwirkenden zählten Beethoven und Czerny sowie die Pianistinnen Magdalena von Kurzböck und Henriette von Pereira-Arnstein.

Andreas Streicher war der Sohn eines Baumeisters, der Vater starb früh, und so kam er ins Waisenhaus. Erst 1778 erhielt er Klavierunterricht. Als Freund Friedrich Schillers – er lernte ihn offenbar bei einem öffentlichen Konzert in der Karlsschule kennen – begleitete er diesen 1782 auf seiner Flucht von Stuttgart nach Mannheim. Streicher bildete sich zum Pianisten aus, war in Mannheim und München als Klavierlehrer tätig und lernte bei Besuchen in Augsburg seine spätere Frau Nannette kennen. Nachdem sich Nannette Streicher 1802 geschäftlich von ihrem Bruder getrennt hatte, erwarb Streicher auch die nötigen technischen Kenntnisse, stieg als Klavierbauer in das Geschäft seiner Frau ein und wurde einer der bedeutendsten und innovativsten Vertreter seines Berufes. Er entwickelte die Stein’sche (sogenannte Deutsche) Mechanik weiter, wobei er sich um die Ausweitung des Klangvolumens und die Vergrößerung des Tonumfangs auf sechs Oktaven bemühte.

1812 regte Streicher mit anderen die Gründung der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien an und gehörte zu deren Gründungsmitglied. Denn: Ganz Wien besaß kein ausschließlich der Musik gewidmetes Institut, keine musikalische Akademie, keine Gesellschaft von Musikliebhabern. Noch vor der Gründung der »Gesellschaft der Musikfreunde« fand 1812 ein Privatkonzert mit karitativem Zweck unter dem Protektorat adeliger Frauen in seinem neu erbauten Saal statt, und es wurde die »Gesellschaft Adeliger Frauen zur Beförderung des Guten und Nützlichen« durch den Theatersekretär Joseph Sonnleithner (1766–1835) gegründet. Zugunsten von Menschen, die in Kriegs- und Feuersnot gekommen waren, sollte ein großartiges Konzert – womöglich nur von »Dilettanten« gegeben – stattfinden. Von einigen Adeligen, u.a. auch von Moritz Reichsgraf von Fries und Fanny Freiin von Arnstein ergingen die Einladungen an die Musikfreunde zur Mitwirkung.

Kaiser Franz I. bewilligte die Aufführung ( Das Alexanderfest von Georg Friedrich Händel) in der kaiserlichen Winterreitschule, die festlich in einen Konzertsaal verwandelt wurde, gestattete die Abhaltung der Orchesterproben im neuen Saal der kaiserlichen Hofburg und wohnte selbst mit seiner Familie mehreren Proben bei. Am Klavier saß Andreas Streicher, die Solosingpartien wurden u.a. von Frau von Geymüller vorgetragen. Im Ganzen waren an der Aufführung 590 Mitwirkende beteiligt, in Gegenwart des Hofes und vor 5000 Anwesenden. Im  Palais des Fürst Lobkowitz wurde eine Liste aufgelegt, in der sich alle Interessierten eintragen konnten, in wenigen Tagen waren einige Tausend Unterschriften gesammelt. Die noch heutige Benennung des Vereins »Gesellschaft der Musikfreunde« war geboren. Im Verzeichnis der ersten 50 Repräsentanten scheinen u.a. die Protestanten Freiherr von Bartenstein und Moritz Reichsgraf von Fries auf.

1814 wurden auch die ersten Schritte zur Anschaffung einer Bibliothek gesetzt. Wertvolle Geschenke von Privatpersonen gingen ein. Aus Lübeck kam eine Sammlung seltener musikalischer Druckwerke aus dem 16. und 17.Jahrhundert. Im Mai 1815 wurde aus Büyükdere am Bosporus eine Kiste mit den im Orient gebräuchlichen Instrumenten geschenkt. Wie international man damals dachte, zeigt das Ersuchen, Instrumente aus Kalkutta und Bombay zu verschaffen. Im Jahr 1815 fanden Aufführungen statt, deren Erträge dem »Centralverein zur Unterstützung der zurückgebliebenen Familien jener Männer, welche mit der Landwehr gegen den Feind gezogen waren«, gewidmet waren. Am 3. Dezember 1815 wurde das erste Gesellschaftskonzert abgehalten. Bis zum Jahr 1848 wurden die Gesellschaftskonzerte von Vereinsmitgliedern dirigiert. Dann aber dirigierte ausschließlich der »Artistische Director«. 1817 wurde eine Singschule eröffnet. 1829 war der Ankauf des Hauses »Zum rothen Igel« unter den Tuchlauben zum Vereinshaus und Konservatorium bestimmt. 1870, mehr als 40 Jahre später, baute Theophil von Hansen das Gebäude der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, dessen großer Saal der schönste Konzertsaal der Welt werden sollte.

Streicher betätigte sich auch aktiv für die Lutherische Gemeinde und setzte sich für die Pflege der evangelischen Kirchenmusik ein.

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Johann Baptist Streicher (geboren am 3. Jänner 1796 in Wien; gestorben am 28. März 1871 in Wien) erhielt als Sohn Nannettes und Andreas Streichers eine ausgezeichnete Ausbildung und absolvierte Praktika in den berühmtesten Klavierfabriken Europas. Das Klavier wurde von ihm technisch verbessert und die Wiener Mechanik weiterentwickelt. Eine größere Klangfülle und Resonanz, gepaart mit ihrem typischen Charakter zeichneten seine Klaviere aus. Streicher stand wie seine Mutter in einer intensiven und engen Verbindung zu den Komponisten seiner Zeit. Die Streicher-Flügel erlangten unter seiner Leitung für ein halbes Jahrhundert Weltgeltung. Höchste Auszeichnungen erhielt er bei Ausstellungen in Wien, London und bei der Pariser Weltausstellung. 1823 übernahm er die Klavierfabrik, die bis 1896 bestand. 1837 ließ er den Neuen Streicherhof in der Ungargasse 27 erbauen und verlegte die Fabrik dorthin.

Johann Baptist Streicher gehörte zu den Vertretern des vormärzlichen Liberalismus und vertrat die Notwendigkeit eines Systemwechsels zur konstitutionellen Monarchie. Er war Mitbegründer des Niederösterreichischen Gewerbevereins und hatte zahlreiche Ehrenämter. In erster Ehe war er mit Auguste André, Tochter des Offenbacher Komponisten und Musikverlegers Johann Anton André, verheiratet. Nach deren Tod heiratete er Friederike Müller, Pianistin und Chopin-Schülerin. Sein Sohn Emil Streicher übernahm die Firma nach seinem Tod.

Nanette, Johann Andreas und Johann Baptist Streicher wurden zunächst am St. Marxer Friedhof beigesetzt und 1891 in ein Ehrengrab am Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32 A, Nr. 30f) überführt. Auf dem St. Marxer Friedhof sind noch die Grabsteine von Nannette und Andreas Streicher erhalten.

Die Streichergasse im 3. Wiener Gemeindebezirk wurde 1893 nach Johann Baptist Streicher benannt.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 140-141.