Seit dem Toleranzpatent wurde die evangelische Kirche in Österreich von einer Behörde geleitet, die in engster Verbindung mit dem Kaiser stand; bis 1861 hieß sie Consistorium, seitdem Oberkirchenrat. Seit 1918 unterstand sie der Bundesregierung. Der jeweilige Präsident wurde aus der Reihe der Beamten durch den Kaiser beziehungsweise den Staat ernannt. Das wurde zunächst nicht anders, als über Wunsch der kirchlichen Vertreter mit 15. März 1938 der bisherige Präsident seines Amtes enthoben und mit 31. desselben Monats in den Ruhestand versetzt wurde. Erst das im Jahre 1939 erlassene „Gesetz über die Rechtsstellung des evangelischen Oberkirchenrates in Wien“ machte aus dieser gewissermaßen staatlichen Behörde eine kirchliche Dienststelle.

Der erste Leiter dieses „kirchlichen“ Oberkirchenrates wurde der aus Kronstadt stammende Dr. Heinrich Liptak. Er war 1936 schon als „Rat“ in den Oberkirchenrat berufen worden und übernahm nunmehr seine Leitung, wobei er aus dem Staatsdienst, in dem er bisher als Richter tätig gewesen war, ausschied.

Dabei war der Lebenslauf des im Jahre 1898 Geborenen bis dahin schon bunt genug gewesen: Nach der Matura rückte er während des Ersten Weltkrieges zum Militärdienst ein, ließ sich aktivieren und beendete den Krieg als Hauptmann. Nun absolvierte er sein Studium der Rechtswissenschaft und begann eine normale richterliche Laufbahn. Als Bezirksrichter in Laa an der Thaya begann er die dort verstreut lebenden Evangelischen zu sammeln und für sie kirchliche Veranstaltungen zu organisieren; es war der Anfang der jetzigen Pfarrgemeinde Mistelbach. Weiten Kreisen der evangelischen Kirche wurde er durch die Herausgabe eines statistisch-historischen Handbuches für diese Kirche bekannt; der letzte amtliche „Schematismus“ mit vergleichbaren Angaben war 1913 erschienen. Es war daher ein wichtiges und von vielen begrüßtes Buch, das Liptak herausgab. Auch die Beteiligung an verschiedenen kirchlichen Veranstaltungen sicherte ihn die Aufmerkamkeit der Gemeinden, wenngleich er natürlich nach seiner Berufung in die staatliche Kirchenbehörde erheblich zurückhaltender agieren musste.

Im Oberkirchenrat erlebte er die turbulenten Tage des März 1938 und dann die Versuche der neuen Leiter, des kommissarischen Präsidenten Dr. Robert Kauer und des „geistlichen Leiters“ Dr. Hans Eder, eine neue Rechtsgrundlage für die Kirche zu erlangen. Gleichzeitig spürte er etwas von den sich formierenden Gegensätzen in der Kirche, die freilich nicht zur Bildung von Kirchenparteien führten. Dennoch gab es Meinungsverschiedenheiten genug über den Weg, den die Kirche nun im „neuen“ Staat einschlagen sollte. Und je mehr die Kirchenfeindschaft dieses Staates offenkundig wurde, desto verwirrter war man. Im Frühjahr 1939 verließ Präsident Kauer den Oberkirchenrat, um eine Stelle am Reichsgericht in Leipzig anzunehmen. Die führenden Männer in der Kirche waren entschlossen, Liptak zum Präsidenten ernennen zu lassen. Die staatlichen Gesetze über den Kirchenbeitrag und den Oberkirchenrat verstärkten durch ihre Unklarheiten, die Hand in Hand mit restriktiven Maßnahmen in der Verwaltung gingen, die Verwirrung. So dauerte es Monate, bis er regulär in dieses Amt berufen werden konnte. Da die Synode nicht zusammentreten durfte, war die Kirche eigentlich leitungslos. Es war Liptaks Verdienst, dass Wege gefunden wurden, die unter Einhaltung wenigstens einer gewissen Legalität und der Zustimmung wenigstens des größeren Teils der Amtsträger der Kirche die Ordnung erhielten und diese nach den neuen Erfordernissen ausbauten.

Es war notwendig, eine zentrale Finanzverwaltung einzuführen; an die Stelle der vielen kirchlichen Vereine mussten Dienststellen des Oberkirchenrates treten, die sich mit der Jugend-, der Frauen- und der Männerarbeit beschäftigten. Der Ersatz für den Religionsunterricht musste organisiert werden; dazu brauchte es Lehrkräfte, die wenigstens eine gewisse Qualifikation haben sollten. Eine immer größere Zahl von Presbytern und Pfarrern musste Kriegsdienst leisten. Die Frage der kirchlichen Organisation musste gelöst werden. Der 1940 zum Bischof ernannte Dr. Eder erkrankte von 1942 an immer wieder. Die Männer des Synodalausschusses waren 1931 zuletzt gewählt worden – sie schieden nach und nach aus der Arbeit aus.

Man kann sich vorstellen, welches Maß an Arbeit auf Dr. Liptak lastete. Dazu kam ja, dass er die neue Situation in den Gemeinden vertreten sollte, dass er aber vor allem die kirchlichen Anliegen den Einrichtungen des Staates und der Partei, nicht zuletzt aber auch der Berliner Kirchenkanzlei gegenüber festhalten musste. Und die Situation, aus der die Kirche in den Alpen und Donaugauen, die gleichwohl ihre Bezeichnung „Evangelische Kirche in Österreich“ beibehalten durfte, kam, war doch deutlich von der anderer evangelischer Kirchen unterschieden.

Es ist erstaunlich, wie treffsicher und sorgfältig Liptak mit nur wenigen Helfern neue Rechtsordnungen schuf, die möglichst viel von dem Bewährten festzuhalten suchten; wie er gefährliche Klippen umschiffte. So gelang es ihm, die Regelung zu erreichen, dass der Bischof in Wien durch den dienstältesten österreichischen Superintendenten in sein Amt eingeführt werden sollte, was Einflüsse von außen doch etwas zurückdrängte oder wenigstens nicht so deutlich erscheinen ließ.

Der Verlauf des Krieges brachte neue Schwierigkeiten. 1944 musste der Oberkirchenrat nach Goisern „verlagert“ werden. Lediglich der neue Bischof, D. Gerhard May, verblieb in Wien. Postverbindungen, Arbeitsmöglichkeiten, personelle Gegebenheiten wurden immer schwieriger, dazu kamen die Kriegszerstörungen. Mit Spätherbst 1944, erst recht in den ersten Monaten des Jahres 1945 setzten Flüchtlingsströme ein, die das Gesicht der Kirche veränderten. Und dann kam das Kriegsende mit seinen Schrecken und seinen Folgen. Erst im Herbst 1945 konnte der Oberkirchenrat wieder nach Wien zurückkehren.

Und nun sah sich Liptak mit neuen Problemen konfrontiert. Eine selbstbewusste Generation kirchlicher Amtsträger wünschte einen vollständigen Umbau der „Kirchenspitze“. Nicht mehr ein Präsident, sondern ein Bischof sollte den Oberkirchenrat leiten und an der Spitze der Kirche stehen. Das traf Liptak persönlich. Ebenso auch das Verlangen der Generalsynode von 1947, dass zu seinem betont sachlichen und korrekten, dabei auf die äußerlichen Ereignisse beschränkt bleibenden Bericht über die Entwicklung der Kirche seit 1931 ein zweiter, vom Bischof zu haltender Bericht über die geistliche Lage der Kirche folgen sollte.

Als dann nach längeren Verhandlungen klar wurde, dass die Mehrheit der Synodalen ein Kirchenleitungsmodell bevorzugte, das einen Bischof an der Spitze vorsah, resignierte Liptak. Er tat hinfort nur mehr seine unmittelbar aktuelle und notwendige Arbeit, überließ aber alle konzeptionellen Überlegungen anderen. Und mit der Beschlussfassung über die neue Kirchenverfassung am 26.1.1949 legte er sein Rücktrittsgesuch vor. Er schied damit aus der Kirchenleitung und trat wieder in den richterlichen Dienst des Staates, er schied aber nicht aus der Kirche. In seiner Gemeinde Wien-Landstraße war er im Presbyterium tätig, wurde dort auch Kurator und leitete selbst durch viele Jahre hindurch einen Bibelkreis.

Auch wenn er nicht mehr die Kirche nach außen zu vertreten hatte, blieb er doch überzeugtes Glied dieser Kirche und stellte seine Fähigkeiten und Kenntnisse vielfach in den Dienst kirchlicher Anliegen.

Es entsprach nur der Art seines Ausscheidens aus der Kirchenleitung, dass er sich sowohl bei seinem Ausscheiden, wie bei seinem Tod eine offizielle kirchliche Würdigung verbeten hat. Bischof D. May hat darum eine in einem warmherzig geschriebenen und von Dankbarkeit über die Tätigkeit getragenen Artikel in der Kirchenzeitung „Die Saat“ des Todes von Dr. Heinrich Liptak, der am 15.1.1971 erfolgte, gedacht:

Aber als evangelischer Christ blieb er unermüdlich tätig. Er war Kurator von Wien-Landstraße. Auf seine Initiative geht der Bau der Paul Gerhardt-Kirche und der Pauluskirche zurück. Er gehörte noch einmal als Landeskirchenkurator dem Kollegium des Oberkirchenrates vorübergehend an. Er leitete den Verband der Wiener Pfarrgemeinden. Sein. tiefe, persönliche Frömmigkeit lebte aus der Bibel. Viele Jahre lang war er der Vorsitzende des Bibelkomitees. Er war persönlich bescheiden und jeder Repräsentation abhold. Der Bundespräsident verlieh ihm das Golden. Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich. Übrigens rechnete er es sich stets als Verdienst an, daß er in der NS-Zeit, als es nur mehr eine „Ostmark“ gab, unserer Kirche als einziger Institution den Namen „Evangelische Kirche in Österreich“ bewahrt hatte.

Menschliche Enttäuschungen machten ihn in seinem Glauben, seiner Liebe zur Kirche und seiner hingebungsvollen Tätigkeit nicht irre. Was er für die Landeskirche vor allem in der schwierigen und gefahrvollen NS-Zeit geleistet hat, wurde nicht immer erkannt und anerkannt, überdauerte ihn aber und sichert ihm einen festen, bedeutenden Platz in der Geschichte unserer Kirche. Dafür gebührt ihm bleibender Dank.     Altbischof D. May

Aus SAAT Nr. 3, 7. Februar 1971, Seite 5.

Er war zwar nur zehn Jahre Oberkirchenratspräsident, und zwar der letzte der acht, er erlebte aber ganz sicher eine der bewegtesten Zeiten in dieser Kirche und er bewährte sich in vieler Hinsicht als treuer Zeuge seines Herrn.

 

Gustav Reingrabner: Eine Wolke von Zeugen – Heinrich Liptak
Aus: Glaube und Heimat 1993, S. 44-46.