Die Wiener Schickeria begegnete ihr mit Ehrfurcht, denn der Name Goethe war etwas Besonderes. Ottilie von Goethe stand ihrem Schwiegervater Johann Wolfgang von Goethe auch sehr nahe und wurde von ihm nach seinem Tod reich bedacht: »Außer freier Wohnung und Gartengenuß jährlich fünfhundert Thaler aus meinem Nachlaß.« Nach Wien rettete sie sich vor der Weimarer Gerüchteküche und dem Tratsch, denn sie war schwanger von einem Engländer, mit dem sie im Sommer 1834 eine Liaison hatte. Eigentlich war sie ja nur zum Untertauchen nach Wien gekommen, geblieben ist sie mit Unterbrechungen über dreißig Jahre bis 1866. Ihre drei Kinder, WaltherWolfgang Maximilian und Alma, die sie aus der Ehe mit Goethes Sohn August hatte, nahm sie auf die Reise nach Wien mit. Durch den frühen Tod ihres Mannes, mit dem sie keine glückliche Ehe geführt hatte, und den Tod Goethes hatte sie in Weimar keine Heimat mehr. Nach langen Jahren des Zusammenlebens mit dem alternden Goethe und der Begleitung bis zum Tod war sie in Weimar auch vereinsamt, für die Öffentlichkeit wie auf einem Präsentierteller interessant, aber ohne Unterstützung.

Mehr Licht! (Goethes letzte Worte; am Sterbelager Ottilie von Goethe).- Gemälde, um 1900, von Fritz Fleischer . Aus Wikimedia Commons –

Erstmals kam sie 1833 nach Wien und stieg im Gasthaus »Zum römischen Kaiser« (Renngasse 1) ab. Der Wiener Arzt Romeo Seligmann, Nachbar im Haus Mölkerbastei 10, wurde ihr zum treuen Begleiter durch Unangenehmes und Schönes. Als sie wiederkam, blieb er ihr Wiener Arzt und Berater. Diese Freundschaft mag dafür ausschlaggebend gewesen sein, dass sie sich für Wien entschied. Der Verzweiflung über den frühen Tod der unehelich zur Welt gebrachten Tochter Anna Sibylle versuchte sie durch den Besuch der Wiener Salons zu entfliehen.

Bald wurde sie selbst mit ihrem klingenden Namen ein Zentrum des geistigen Wiens. Ihr »Herzenszimmer«, angefüllt mit Weimar und ihren Erinnerungen, lernten die Wienerinnen und Wiener schätzen. Es wird ihr »sprühende Geistigkeit«, »reiches geselliges Temperament« und »schmerzliche Ruhelosigkeit« nachgesagt. »Soll man aber die Liste der Besucher hersagen, die gelegentlich den Weg zu ihrem Salon suchten, so möchte einem fast der Atem vergehen. Alle Stände waren vertreten, der Adel, die Armee, die Kunst, die Wissenschaft, ja sogar die hohe Klerisei hatte in dem Domherrn Fürsten Lichnowski ihren Repräsentanten am Teetisch Ottiliens. Der Astronom Littrow, ein Fürst Schwarzenberg, der Dichter Zedlitz, Feldzeugmeister Heß, der Schauspieler La Roche, Betty Paoli, Freiherr von Feuchtersleben, viele Damen der Aristokratie, Bauernfeld und der immer getreue Romeo Seligmann, sie gehörten alle sozusagen zum Besitzstand des Hauses … Selbst der spröde, wenig gesellige Grillparzer fand sich ein, damals, als noch Goethes Enkelin Alma, das schöne, holde, sonnige Kind, in bescheidener Anmut den Tee kredenzte, wie es der Dichter so innig schlicht und warm empfunden in seiner Totenklage schildert, die er Alma weihte.« (Hermine Cloeter)

Befreundet war die Familie mit dem berühmten Chirurgen Franz Schuh, der regelmäßige Musikabende in seinem Haus gab. Später wohnte sie in der Renngasse 8: Oft auf Reisen, nannte sie ihre schöne Wiener Wohnung selbst das »Absteigquartier meiner Büsten und Bilder«. Die Erziehung der beiden Söhne bereitete ihr große Sorgen. Walther war Komponist ohne großen Erfolg. Sein musikalischer Mentor war Ignaz Ritter von Seyfried, ein Schüler Mozarts, der bei dessen Theater im Freihaus und dann bis 1825 im Theater an der Wien Kapellmeister gewesen war. Später war er als Lehrer in Kontrapunkt und Komposition tätig, schrieb Opern, Operetten, Messen. Walther von Goethe widmete ihm mehrere Klavierkompositionen. Ihr zweiter Sohn Wolf war erfolgloser Schriftsteller. Alma, ihre Tochter, »ein heiteres, unbefangenes, anmutiges, sehr kluges Wesen« starb an der in Wien grassierenden Typhusepidemie mit 17 Jahren. Sie soll als Hauptfigur des auf der Freyung errichteten Austria-Brunnens (Ludwig Schwanthaler) verewigt sein.

Im Juli 1861, als es Mode wurde, über Goethe herablassend zu reden – er sei kaltherzig und egoistisch, gottlos und stolz und im übrigen feindselig gegenüber jungen Talenten gewesen -, schrieb Ottilie eine Verteidigungsrede für ihren »Vater«: »Ich habe fünfzehn Jahre mit meinem Schwiegervater zusammengelebt, und nie habe ich auch nur einmal gefunden, er sei kalt oder herzlos. Er stellte sich immer auf den Standpunkt des anderen, und so war er mild-verstehend und bei Irrtümern erbarmend. Der Vater war ein Mann des Volkes – auf unseren Spazierfahrten habe ich das oft erlebt. Ein Hauptzug meines Vaters war, dass er ganz neidlos war. Nur reine Freude empfand er, wo ihm großartiges entgegentrat, ja Tränen traten ihm vor Bewunderung in die Augen. So habe ich ihn auch von Christus sprechen sehen: Wollen Sie es Andacht nennen, Verehrung, Anbetung?« 1870, nach einem Zwischenaufenthalt in Jena, fuhr sie endgültig nach Weimar, in das Haus am Weimarer Frauenplan, verstaubt, baufällig, und starb 1872 in ihrer alten Mansardenwohnung. Ihren Grabspruch hat sie selbst formuliert: »Von Quellen umgeben, verdurstete sie, denn keine bot ihr einen frischen Trunk.« Das war an die Weimarer Freundinnen gerichtet, die es ihr nie verziehen haben, Wien Weimar vorgezogen zu haben.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 76 – 78.