Anfangs stieß Leisching auf große Skepsis. »Die unteren Klassen«, sagten wohlmeinende Freunde, »werden Sie nicht gewinnen, die wollen und brauchen nicht mehr als halbwegs auskömmlichen Lohn, Wein und Bier, Wurstelprater und Heurigenmusik und für die Bildung das »Illustrierte Wiener Extrablatt«.«

20 Jahre nach der Gründung des Volksbildungsvereins durch Eduard Leisching konnten er und sein Team auf eine ungeahnte Erfolgsstory verweisen, die kleingläubige Kritiker eines Besseren belehrte: 950.000 Besucherinnen und Besucher hatten 3791 Veranstaltungen des Vereins seit seiner Gründung 1887 in Wien aufgesucht, darunter waren 2648 wissenschaftliche Vorträge, 582 Konzerte und 561 Mustervorlesungen für alle. Seine Überzeugung, dass Volksbildung nötig sei, war aus den Erfahrungen genährt, die der privilegierte Bürgersohn schon früh in der Begegnung mit der sozialen Realität gemacht hatte: denn ohne Bildung und die Chance auf sie waren Armut, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Elend unvermeidlich.

Tatsächlich waren die Arbeiterinnen und Arbeiter, die Angestellten und ebenso die Bürgerinnen und Bürger offensichtlich hungrig nach Bildung, sie strömten in die Veranstaltungen, sie standen bei Vorträgen stundenlang, weil nicht genügend Sessel vorhanden waren.

In seinem Elternhaus hatte Leisching fast ausschließlich mit anderen »Reichsdeutschen« zu tun gehabt, die sich in Wien angesiedelt hatten. Zu den Freunden des Vaters zählten Friedrich Hebbel, Ernst Wilhelm Brücke, Carl Rahl, Emil von Förster, Theophil von Hansen u. a. So fühlte er sich als Kind auf der einen Seite als »Fremdkörper« in Wien, auf der anderen bewunderte er die Schönheit des Katholizismus in den Gottesdiensten. Durch die Zensur waren politische Gespräche in der Öffentlichkeit nicht möglich, deshalb verabredete man sich im kleinen Kreis zu Hause bei Kammermusik. Da er im Haus der Evangelischen Schule am Karlsplatz wohnte, erlebte er in Wien alle Phasen der Stadtentwicklung.

Eduard Leischings Erfolg hatte viele Väter. Der erste war sein eigener. Er lehrte ihn die Achtung vor allen Menschen, war für die Revolution 1848, bewunderte Robert Blum und war 1850 von Thüringen als Kaufmann nach Wien gekommen, wo er 1851 heiratete. Das Paar war bürgerlich-liberal, aber auch für die »großdeutsche« Lösung der »deutschen Frage«, also für die Einbeziehung der Habsburgermonarchie als Präsidialmacht, im Gegensatz zur späteren »kleindeutschen« Lösung Bismarcks. Er brachte seinem Sohn Eduard bei, dass die Gesellschaft und der Staat für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze zu sorgen hätten. Das Recht auf Bildung – eine liberale Forderung – wurde gegen den Widerstand von Katholizismus und Industrie gefordert.

Leisching junior wollte sich das »rückhaltlose Vertrauen des Volkes« verdienen und verzichtete aus Prinzip auf Parteipolitik. Das brachte ihm auch Lob und Geld vom Kaiser ein. »Neutralität« im »heißen und zerklüfteten Boden Wien« schien für ihn in den 1880er Jahren notwendiger denn je.

So konnte er auch unterschiedliche Ansätze der Volksbildung als eine Art Mediator vereinen, sodass sich aus dem Volksbildungsverein eigene Organisationen entwickeln konnten: die Zentralbibliothek unter dem Advokaten Emil von Fürth, dem Geologen Eduard Reyer, auch Gründer der Zentralbibliothek, dem Bundespräsidenten Michael Hainisch; die Urania unter dem Mineralogen Aristides Brezina, nach dem Vorbild der Berliner Urania konzipiert; das Technische Museum für Industrie und Gewerbe unter Wilhelm Exner und Arthur Krupp; das Volksheim unter dem Historiker und führenden sozialdemokratischen Volksbildner Ludo Moritz Hartmann; die Volkslesehalle und die Arbeiterbibliotheken; die Volksbildungshäuser Margareten in der Stöbergasse und im 10. Bezirk; die Gründung des gewerbehygienischen Museums u.a. Das Volkbüchereiwesen bauten Emil Fürth, Michael Hainisch und Marianne Hainisch, Dittes und Klein aus.

Den Ängsten der Liberalen vor der »geistigen Befreiung« des Volkes und den Beschimpfungen durch Konservative als »Religionsfeinde, Freimaurer und Juden« setzte er eine kontinuierliche Aufbauarbeit in Kooperation mit führenden Persönlichkeiten entgegen: den Historiker Alfred von Arneth, den Industriellen Alexander Ernst von Peez, den Finanz- und Handelsminister Ignaz von Plener, den Chirurgen Eduard Albert, den Geologen Eduard von Suess, den Historiker und sozialistischen Politiker und Volksbildner Ludo Moritz Hartmann und den Philosophen Friedrich Jodl, denen an die 100 Vortragende zur Seite standen.

Trotz allen Engagements des Miteinander gab es auch schwierige Zeiten. Eines Tages waren plötzlich alle Vortragslokale durch eine Verfügung Bürgermeister Luegers geschlossen. Über Vermittlung des nahestehenden Unterrichtsministers Hartel fand ein Gespräch mit Lueger statt, in dem er die Auslieferung »einiger Juden, Judenstämmlinge und Judenknechte« nach »Auswahl des Stadtrates« verlangte. Unter diesen befand sich auch Hermann Nothnagel, der nie vorgetragen hatte. Leisching widersetzte sich diesem Ansinnen mit dem Argument, dass er nicht bereit sei, über wissenschaftlich hochstehende Persönlichkeiten zu verhandeln.

Die Veranstaltungen des Volksbildungsvereins wurden von kleinbürgerlichen und proletarischen Kreise wahrgenommen, die Urania hatte eher einen Rückhalt in der bürgerlichen Schicht, und das Volksheim war für die Arbeiterinnen und Arbeiter sowie Angestellte da. Alle arbeiteten zu Beginn ehrenamtlich – sowohl die Leitungspersonen als auch die Vortragenden. In seinem »Brotberuf« war Leisching erst Direktionssekretär, später von 1909 bis 1925 Direktor des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (heute MAK) und Kunstberater der Stadt Wien. Er verfasste eine Reihe von kunsthistorischen wissenschaftlichen Werken und trat u.a. als Förderer Fritz Wotrubas hervor, dem er ein Atelier im 9. Bezirk vermittelte; auf Leischings Anregung erwarb die Gemeinde Wien auch Wotrubas Werk »Junger Riese« und stellte es 1932 in der städtischen Wohnhausanlage am Engelsplatz auf. 1938 wurde es von den Nationalsozialisten entfernt und später ein geschmolzen.

 

Aus: Monika Salzer/Peter Karner: Vom Christbaum zur Ringstraße. Evangelisches Wien. 2., verbesserte Auflage, Wien 2009, S. 101–103.